Ars-legendi-Preisträger 2017: Just in Time Teaching (JiTT) in den Naturwissenschaften

07.08.2017: Der Ars legendi-Fakultätenpreis für exzellente Hochschullehre in der Kategorie Physik ging in diesem Jahr gemeinschaftlich an Prof. Dr. Claudia Schäfle, Prof. Dr. Silke Stanzel und Prof. Dr. Elmar Junker von der Hochschule Rosenheim. Sie führen in mehreren sehr unterschiedlichen Studiengängen Lehrveranstaltungen im Bereich der angewandten Physik durch. Besonders im Vordergrund steht dabei das "Just in Time Teaching" (JiTT), bei dem Studierende sich selbständig anhand vorgegebener Literatur vorbereiten und mit Hilfe von Online-Fragen den Dozierenden Rückmeldung über ihren Verständnisgrad geben. Wir haben bei den Preisträgern nachgefragt: Was genau ist JiTT und wie funktioniert diese Lehrmethode?

Preisträger Ars legendi 2017
Die Preisträger des Ars-legendi Preises 2017 für exzellente Hochschullehre in der Kategorie Physik: Prof. Dr. Claudia Schäfle, Prof. Dr. Silke Stanzel und Prof. Dr. Elmar Junker von der Hochschule Rosenheim

e-teaching.org: Sie gestalten Ihre Lehrveranstaltungen nach dem Konzept des „Just in Time Teaching“. Wie genau läuft nun eine Lehreinheit bei Ihnen ab?

Silke Stanzel: Da müssen wir mit der Beschreibung schon in der Woche vor dem Unterricht starten. Zu dem Zeitpunkt nämlich erhalten die Studierenden über unsere Online-Lernplattform einen Studierauftrag, in dem das Lernziel der Einheit genannt ist und Literaturempfehlungen gegeben sind. Ganz konkret könnte das in unseren Physiklehrveranstaltungen z.B. das Verständnis der Wärmetransportmechanismen sein und ihre Anwendung zur Bewertung der Dämmeigenschaften eines Wandaufbaus. Wenige Tage vor der eigentlichen Veranstaltung wird dann der Online-Test zur Bearbeitung freigeschaltet, der bis einen Tag vor der Lehrveranstaltung durchgeführt sein muss. Der Test besteht aus vier bis sechs kleinen Aufgaben zum Thema – das können Verständnisaufgaben sein z.B. in Form von Multiple Choice-Tests oder auch kleine Problemstellungen – bei denen eine Lösung zu berechnen ist. Dazu kommt in jedem Fall die Aufforderung zur Rückmeldung, welche Aspekte des Themas noch unverstanden sind. Das ist unsere „Frage nach der Frage“. Rechtzeitig vor der Veranstaltung sehen wir uns das Ergebnis des Tests an. Die Online-Lernplattform Moodle unterstützt uns dabei mit statistischen Auswertungen der Antworten. Das heißt, wir sehen auf einen Blick nicht nur, wie hoch der Anteil der richtigen Antworten ist, sondern auch, ob ein oder zwei falsche Antworten besonders häufig gewählt wurden. Damit erkennen wir also, welche Themen schon verstanden sind, wo es Verständnisschwierigkeiten gibt und insbesondere, welche Fehlvorstellungen möglicherweise besonders verbreitet sind. Zusammen mit den konkreten studentischen Bitten um Erklärungen haben wir damit ein klares Bild, auf welche Aspekte wir in der Lehrveranstaltung den Fokus legen werden.

Claudia Schäfle: Die Lehrveranstaltung passen wir entsprechend den Ergebnissen aus dem Online-Test an. Dies ist der „Just-in-Time“-Aspekt der Methode. Meist erklären wir kurz und knapp abschnittsweise in einer Art Mini-Vorlesung die wichtigsten physikalischen Zusammenhänge des betreffenden Kapitels ohne aber jedes Detail des Studiertextes zu erwähnen. Darüber hinaus verwenden wir einen großen Teil der durch das im Vorfeld erbrachten Lesezeit eingesparten Zeit, um die Verständnisschwierigkeiten zu verringern und das Thema zu vertiefen. Wir diskutieren zum einen Fragen der Studierenden aus dem Online-Test, zum andern werden gezielt Peer Instruction-Fragen verwendet, bei denen die Studierenden über die Antwort einer Frage mit einem Hörsaal-Abstimmungssystem (Clicker) anonym abstimmen. Aus der Antwortverteilung lässt sich auf Verständnisschwierigkeiten schließen. Das Besondere ist bei dieser Methode nun, dass die Peers untereinander im Anschluss über die Frage ein bis zwei Minuten diskutieren und dann erneut über die gleiche Frage abstimmen. Meist hat sich dann das Abstimmungsergebnis von beispielsweise 50:50 auf 80:20 verbessert, die Studierenden haben untereinander diskutiert, waren gedanklich selbst aktiv und im Austausch. Schließlich werden, wie im traditionellen seminaristischen Unterricht auch, Übungen und Beispiele gerechnet und Demonstrationsexperimente gezeigt. Hinter dem Konzept steht die Haltung, dass in der wertvollen Zeit, die die Lehrveranstaltung bietet, möglichst viel gedanklich verknüpft und verstanden, also gelernt, wird. Dieses Lernen geschieht eben nicht durch reines Zuhören, sondern durch Tun, Anwenden und Diskutieren. Das reine Informationsaufnehmen und ein erstes Kennenlernen des Stoffes werden auf die Vorbereitungszeit verlagert.

Elmar Junker: Nach der Lehrveranstaltung wird in der Regel den Studierenden ein weiterer Online-Test zum Thema gegeben, der sogenannte Nachtest. Dort gibt es dann Vertiefungsfragen, meistens etwas anspruchsvoller als im Vortest. Die Hauptfehler oder Hauptfragen der Studierenden im Nachtest werden dann in der nächsten Unterrichtsstunde wieder aufgenommen. Je nach Komplexität des Themas und der Art und Weise wie der Stoff inhaltlich aufgeteilt ist, könnte es also sein, dass die Studierenden bis zur nächsten Stunde einen Nachtest und einen neuen Vortest zu einem neuen Thema machen sollen. In den Didaktik-Nachrichten des diz-bayern.de vom Juni 2017 haben wir die Methodik genauer erklärt. (Die folgende Grafik aus dieser Veröffentlichung veranschaulicht das Gesagte)

Lehr- Lernkonzept Just in Time Teaching
Lehr- Lernprozesse beim „Just in Time Teaching" (aus: Didaktik-Nachrichten DiNa des diz-bayern.de)

e-teaching.org: Wie sind Sie auf die Idee für das Konzept gekommen? Gab es Vorlagen oder Vorbilder? Haben Sie im Lauf der Zeit Anpassungen oder Veränderungen vorgenommen?

Elmar Junker: Wir waren – jeder für sich – auf der Suche nach besseren, effektiveren Lehrmethoden. Schnell lernt man, dass es nicht darauf ankommt für einen guten oder sehr guten Dozenten gehalten zu werden, sondern dass es in MINT-Fächern wichtig ist, „die Studierenden ans Arbeiten zu kriegen“. Der Dozent kann nicht für die Studierenden lernen, das müssen sie schon selbst tun – wie beim Lernen eines Musikinstruments, bei dem man auch nicht Geige spielen lernt durch Anhören der besten Geiger der Welt.

Claudia Schäfle:  Das Didaktikzentrum der bayrischen Hochschulen in Ingolstadt (diz-bayern.de) bietet jedes Semester eine Vielzahl von Kursen zu verschiedenen Themen. Hier sind wir regelmäßig Gast und probieren neue Methoden aus.

Elmar Junker:  Ja, und ein Kurs des Kollegen Christian Kautz von der TU Hamburg Harburg über „Just in Time Teaching“ (JiTT) und „peer instruction“ (PI) und der spätere Vertiefungsworkshop von Peter Riegler von der Ostfalia Hochschule haben mich direkt angesprochen. Die Studierenden werden zum „Selbstun“ gebracht und die tatsächliche Studierzeit nähert sich an die Sollzeit, die nach dem Credit-Punkt-System vorgesehen ist.

Claudia Schäfle:  Und ich war besonders angetan von den „Tutorials“. Das sind keine üblichen Übungstutorien wie es sie in jeder Hochschule gibt, sondern sie gehen auf sogenannte „Alltagsvorstellungen“ oder „Fehlvorstellungen“ ein. Die meisten Menschen haben sich aus ihrer Vorerfahrung an bestimmten Stellen Vorstellungen konstruiert, die nicht der heutigen physikalischen Sichtweise entsprechen. Aufgrund dieser tiefliegenden Vorstellungen und Überzeugungen beantwortet man manche Dinge falsch. Aufgabe ist es durch ein Prinzip von „elicit-confront-resolve“ diese Vorstellungen durch die richtigen zu ersetzen. Erst wenn man die richtigen Vorstellungen hat, kann man physikalische Probleme richtig bearbeiten.

Silke Stanzel: Mich haben vor allem die Schilderungen von Eric Mazur inspiriert, der in den 90er Jahren an der Harvard Universität die Methode der „peer instruction“ entwickelt hat und sie in Kombination mit „Just in Time Teaching“ anwendet. Und durch unseren kollegialen Austausch untereinander macht jeder von uns jetzt alle drei Methoden, aber auch jeder auf seine Art, denn jeder Dozent lehrt natürlich individuell.

Elmar Junker: Wir haben die Methoden auch für unsere Studierenden angepasst und modifzifiert. Die Methoden müssen sowohl zum Studierenden als auch zum Stil des Dozenten passen.

e-teaching.org: Durch die Lernstandserhebung haben Sie die Möglichkeit auf die individuellen Wissensvoraussetzungen der Studierenden einzugehen. Das bedeutet aber auch, dass Sie im Vorfeld Aufgaben stellen und die Lösungen der Studierenden auswerten müssen. Außerdem können Sie die Präsenzveranstaltung nicht mehr standardisieren und weiträumig vorbereiten. Wie sehen Sie das Verhältnis von Aufwand und Ertrag?

Elmar Junker: Ah, ja, vor allem die Umstellung bedeutet mehr Aufwand. Dies gelang durch die personelle Unterstützung in unserem ersten Didaktik-Projekt im Rahmen des bayerischen Verbundprojektes HD-MINT im Rahmen des Qualitätspaktes Lehre des BMBF. Damit hatten wir Zugriff auf einen wissenschaftlichen Mitarbeiter und eine Pädagogin in Teilzeit. Dies war extrem wertvoll, vor allem, wenn man 18 Wochenstunden unterrichten soll.

Claudia Schäfle: Insgesamt ist der Aufwand höher als ein fertiges Skript vorzulesen. Aber der Wirkungsgrad ist auch höher.

Silke Stanzel: Und insbesondere macht es einfach mehr Freude, als ein fertiges Skript vorzutragen. Der Dialog mit den Studierenden, der sowohl online als auch im Präsenzunterricht stattfindet, motiviert ungemein, vor allem, wenn man den Lernfortschritt so direkt miterleben kann.

e-teaching.org: Welche Rolle spielen digitale Medien bei der Planung und Durchführung Ihrer Veranstaltungen? Auf welche Programme greifen Sie für die Tests zurück, wie werden diese angelegt und ausgewertet?

Elmar Junker: Die digitalen Medien sind essentiell. Wir benutzen an der Hochschule die E-Learning-Plattform Moodle. Moodle ist ja direkt nach Linux das zweiterfolgreichste Open-Source-Projekt der Welt und hat sich in den letzten Jahren spürbar weiterentwickelt. Wir haben auch ein Plug-in programmieren lassen, damit die Studierenden unsere Antworten auf die Freitext-Fragen direkt als E-Mail erhalten.

Claudia Schäfle: Ja, mit diesem Tool ist auch in größeren studentischen Gruppen eine gewisse individuelle Betreuung möglich. Studenten können Fragen an den Professor oder die Professorin stellen und bekommen Rückmeldung, individuell oder in der Gruppe. Außerdem stellen wir jeweils die Lernziele, die Studieraufträge und andere Lernmaterialien online.

Silke Stanzel: Besonders praktisch ist für uns, dass Moodle die Auswertung der Testergebnisse so übersichtlich darstellt. Ich erkenne nicht nur sehr schnell, welche Aufgaben Probleme bereiten, sondern erhalte, wie im Detail vorhin erklärt, eine nützliche Antwortstatistik, die mir hilft die Schwerpunkte in der Lehrveranstaltung zu setzen.

e-teaching.org: Gibt es noch weitere technische Voraussetzungen?

Elmar Junker: Das Hörsaal-Abstimmungssystem (Clicker) ist noch wichtig, damit die Studierenden anonym abstimmen können. Das muss kein elektronisches System sein, es geht auch mit einem viergeteilten Blatt, wo jede Seite eine andere Farbe hat, und die Studierenden halten je nach gewählter Antwort eine bestimmte Farbe hoch. Die Clicker erlauben aber auch Mehrfachantworten und mehr als vier Antwortmöglichkeiten. Wir haben das System von TurningPoint und sind damit im Wesentlichen zufrieden. Integration in Powerpoint ist möglich aber nicht nötig.

Claudia Schäfle: Es gibt auch eine Reihe von Systemen, die mit Smartphones funktionieren, alle mit Vor- und Nachteilen. Mit den Clickern kann man jedenfalls keine WhatsApps checken…

e-teaching.org: Wie ist die Resonanz bei den Studierenden? Für sie ist der Arbeitsaufwand ja nun auch um einiges höher.

Silke Stanzel: Die Studierenden schätzen diese Lehrmethode sehr! Wir hatten anfänglich befürchtet, dass es großen Protest gibt, denn der Aufwand ist in der Tat wesentlich höher als bei herkömmlichen Lehrveranstaltungen. Aber die Vorteile überwiegen offenbar deutlich. In unseren Evaluationen geben ca. 75% der Studierenden an, dass sie durch JiTT motiviert werden, sich intensiver als sonst mit fachspezifischen Inhalten zu beschäftigen. Außerdem erkennen sie, dass sie von der Präsenzveranstaltung viel stärker profitieren, da sie ihre Fragen dort beantwortet bekommen. Im konventionellen Unterricht kommen die Fragen ja meist erst nach der Lehrveranstaltung daheim auf, wenn kein Experte mehr zur Verfügung steht. Außerdem wird das Lernen dadurch unterstützt, dass neue Inhalte im Unterricht an bereits Bekanntes angeknüpft werden können.

Elmar Junker: (lacht) Ja, und die Studierenden sind auch selbstkritisch. Viele schreiben, dass sie es gut finden, wöchentlich über die Online-Tests „gezwungen“ zu sein, was zu tun. Einer schrieb sogar Klartext im Feedback auf die Frage: Bitte geben Sie an, was Sie im Lernprozess am meisten unterstützt und begründen Sie warum: „Die JiTT-Tests helfen definitiv extrem! Zugegebener­maßen sind sie sehr zeitaufwendig und nervig aber sie zwingen mich faule Sau dazu, mich mit dem Lerninhalt zu beschäftigen. Daumen hoch.“

e-teaching.org: Haben Sie auch Daten, die die Wirksamkeit der Lehrmethode JiTT belegen?

Silke Stanzel: Ja, wir verwenden einen standardisierten Test, mit dem wir Fortschritte im  Konzeptverständnis messen können. Die Lehrveranstaltungen mit JiTT und PI erreichen dabei im Mittel bessere Ergebnisse als konventioneller Unterricht.

Claudia Schäfle: Ja, auch wenn sicher sehr viele verschiedene Parameter den Wirkungsgrad von Lernen und Lehren bestimmen und keine Studie frei vom sogenannten „Stichproben-Bias“ ist.

Elmar Junker: Sie können einiges dazu nachlesen auf der Seite von "PRO-Aktjv" der Hochschule Rosenheim in unserer Publikationsliste.

e-teaching.org: Ist das Konzept übertragbar auf andere Fachbereiche? Gibt es Nachahmer – und was würden Sie Kolleginnen und Kollegen raten, die es einmal ausprobieren wollen?

Silke Stanzel: Prinzipiell gibt es keine Einschränkung für den Anwendungsbereich. Voraussetzung ist zum einen, dass Material zur Vorbereitung zur Verfügung steht. Das können Lehrwerke sein wie Bücher und Skripte oder Filme, aber auch wissenschaftliche Veröffentlichungen. Zum anderen müssen sich natürlich sinnvolle Aufgaben für den Online-Test erstellen lassen. Diese ergeben sich in der Regel aus den Lernzielen.

Elmar Junker: Unser Tipp ist, nicht unbedingt gleich ein ganzes Semester in einem Fach umzustellen. Ich habe z.B. damit angefangen, nur 2 von 14 Lehrveranstaltungen (LV) zu ändern. Die Studierenden erhielten die Information: „Nächste Woche läuft alles anders. Bitte die LV vorbereiten. Wer nicht vorbereitet ist, hat keinen Nutzen aus der LV.“ Auch gab es am Anfang keine Nachtests und nur wenig Peer-Instruction-Fragen in der LV. Auch darf man die Methodik nicht dogmatisch sehen, Variationen für den eigenen Lehrstil sind wichtig. Prof. Dr. Franz Waldherr vom Didaktikzentrum der bayrischen Hochschulen in Ingolstadt (diz-bayern.de) sagte es einmal sehr treffend: „Der Unterricht ist Euer didaktisches Labor. Da muss man experi­mentieren, sonst gibt es keine neuen Erkenntnisse.“ Da kann man nur ergänzen: „… sonst wäre der Unterricht ja auch noch wie im Mittelalter.“

Claudia Schäfle: Wir sind gerne bereit unsere Erfahrungen zu teilen. Zum Kennenlernen dieser Lehrmethoden bieten wir Workshops für Praktiker von Dozenten für Dozenten an. Interessierte Kollegen können sich diesbezüglich gerne an uns wenden oder wir vermitteln ihnen Kollegen, die ihnen zu ihren spezifischen Problemen bezüglich der Lehrmethoden weiterhelfen können.

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