Chatprotokoll "E-Learning 2.0: Von den Hochschulen gehypt – bei Studierenden unerwünscht?" mit Prof. Dr. Ullrich Dittler

Prof. Dr. Ullrich Dittler ist Inhaber der Professur für Interaktive Medien an der Hochschule Furtwangen. Zu seinen vielfältigen E-Learning-Aktivitäten gehören u.a. der Vorsitz der Gesellschaft für Medien in der Wissenschaft (GMW) von 2004 bis 2006; im Editorial-Board der Schriftenreihe der GMW ist er seit 2003 und leitet dieses Board seit 2005. Seit 2004 ist Ullrich Dittler Prodekan der Fakultät „Digitale Medien“ der Hochschule Furtwangen, seit 2008 zudem stellv. Leiter des Informations- und Medienzentrums (IMZ) der Hochschule Furtwangen. Ebenfalls 2008 wurde er, als langjähriger Senatsbeauftragter für Hochschuldidaktik, vom Ministerium für Wissenschaft und Kunst in den Lenkungsausschuss für Hochschuldidaktik des Landes Baden-Württemberg berufen.


Im e-teaching.org-Expertenchat am 27. Oktober stellte er seine provokative These zur Diskussion, dass E-Learning 2.0 (nur) von den Hochschulen gehypt werde, bei Studierenden dagegen eher unerwünscht sei. Im Chat-Protokoll können Sie den interessanten Meinungsaustausch nachlesen.

Die Themen im Schnellzugriff:
Moderator: Herzlich willkommen zum e-teaching.org-Expertenchat mit Ullrich Dittler. Heute von 14 bis etwa 15 Uhr ist unser Thema "e-Learning 2.0. Von den Hochschulen gehypt - bei Studierenden unerwünscht?". Wir freuen uns auf Ihre Fragen an unseren Experten.
So, es ist fast 14 Uhr. Wie sieht es aus, wollen wir starten, Herr Dittler?

Ullrich Dittler: Ja, sehr gerne!

Was sind Charakteristika von “Web 2.0” in der Lehre (im Gegensatz zu “E-Learning”)?

Michi: Was sind Ihrer Meinung nach die spezifischen Unterschiede zwischen "E-Learning" und "Web 2.0 in der Lehre"?

Ullrich Dittler: Die Trennung zwischen E-Learning und Web 2.0 ist sicherlich ein Stück weit eine künstliche Trennung. Wenn wir probieren, beide Begriffe zu klassifizieren, dann können wir unter E-Learning beispielsweise so etwas wie Learning-Management-Systeme und CBTs bzw. WBTs verstehen. Oder auch die Möglichkeit, elektronische Aufgabenblätter auszufüllen und an die Dozenten zur Auswertung zurückzuschicken. Unter E-Learning 2.0 können wir all die Möglichkeiten fassen, die unter Web 2.0 verstanden werden, wenn sie in der Lehre eingesetzt werden: also beispielsweise Blogs, Wikis, Linksammlungen, Foren etc. Entscheidend ist gleichermaßen, dass sowohl bei E-Learning 1.0 als auch 2.0 die Lehrenden sich Gedanken über den sinnvollen Einsatz der Tools für ihre Vorlesungen und Seminaren machen sollten.

Cornelia: Mögen die Hochschullehrer denn Web 2.0? Bedeutet für den Lehrenden doch auch einen gewissen Machtverlust.

Ullrich Dittler: Web 2.0 hat Auswirkungen auf beiden Seiten des Lehr-Lern-Prozesses. Für die Lehrenden bedeutet es sicherlich den Aufbau weiterer Medienkompetenz, zusätzlich zu der Fachkompetenz. Damit stellt der Einsatz von E-Learning 2.0 zunächst immer auch eine Mehrbelastung für die Lehrenden dar. Der Machtverlust ergibt sich aus der sich seit Jahren ändernden Rolle zwischen Lehrenden und Lernenden: Mit zunehmendem Einsatz von Lehr- und Lernmedien änderte sich die Rolle der Lehrenden aus der Position eines absoluten Wissensträgers hin zu der Rolle eines Coaches im konstruktivistischen Sinne. Gleichzeitig konkurriert der Lehrende zudem immer auch mit anderen Wissensquellen.

Raki: Aber werden Profs eine Gleichartigkeit zwischen Lehrenden und Lernenden zulassen?

Ullrich Dittler: Ich glaube, Profs werden eine Gleichartigkeit zwischen Lehrenden und Lernenden zulassen müssen, da die Rollenerwartungen, mit denen Studierende ihnen gegenübertreten, sich ändern. Es würde dauerhaft nicht funktionieren, wenn eine Seite - beispielsweise die Lehrenden - auf eine klassische Professoren-Rolle pocht, während die Studierenden stärker eine Coaching-Rolle einfordern.

joker: Mir gehts zu schnell weg von der ersten Frage. Konkret, welche Hochschulen propagieren/ praktizieren wirklich E-Learning 2.0? Die meisten machen doch nicht mal 1.0 ...

Ullrich Dittler: Die Einführung von E-Learning 1.0 an den Hochschulen war lange Zeit getrieben vom individuellen Engagement einzelner Lehrender. Zwischenzeitlich haben zahlreiche Hochschulen E-Learning Strategien entwickelt und entsprechende zentrale Einheiten gegründet. Das heißt, sie betreiben nicht nur Lernplattformen, sondern haben auch Schulungs- oder Anreizsysteme entwickelt, um die Lehrenden in der Einführung von elektronischen Lernmedien zu unterstützen und gleichzeitig die in der Regel virtuellen Angebote auch in der Hochschule sichtbar zu machen; z.B. durch E-Learning Awards. Derzeit ist auch der Einsatz von Web 2.0.-Tools vom Engagement einzelner Lehrender abhängig, die teilweise schon auf einer technischen Unterstützung durch die Medien- oder E-Learning-Zentren zurückgreifen können. Bei der didaktischen Unterstützung stehen viele entsprechende zentrale Einrichtungen aber auch noch am Anfang. Derzeit wird auch im Bereich E-Learning 2.0 noch viel ausprobiert, sicherlich ist nicht alles davon zukünftig erfolgreich.

Ist Web 2.0 bei Studierenden wirklich unerwünscht?

Rubin: Beruht der Titel des Chats auf einer Untersuchung? Wenn ja: Wo wurde das wie untersucht? Was sind die konkreten Ergebnisse?

Michaelis: Evaluieren Sie den Einsatz von Web 2.0 bei den Studierenden?

Ullrich Dittler: Der Titel der Veranstaltung trägt absichtlich das Fragezeichen, da vor allem Erfahrungen mit dem Einsatz von E-Learning 2.0 zu Grunde liegen, nicht jedoch belastbare empirische Erhebungen. Erfreulich ist, dass sich Hochschulen zunehmend – wie auf der GMW-Tagung 2008 in Krems zu hören war – mit dem Lernprozess der Studierenden auseinandersetzen und die Bedeutung von Lehr-Lern-Medien für diesen Prozess erheben. In diesen Studien gibt es erste Hinweise, dass dieses Fragezeichen durchaus ein Ausrufezeichen sein kann.

Ina: Liegt das Unerwünschte des Web 2.0 von Seiten der Studierenden daran, dass sie es als ein Eingriff in ihre eigene Freiheit empfinden, wenn ihnen vorgeschrieben wird in welchen Wikis, Foren etc. sie tätig sein müssen?

Ullrich Dittler: Ihre Frage gibt zwei wichtige Hinweise: Zum Einen verändert sich das Typische eines Forums oder Wikis, wenn die Beiträge nicht freiwillig verfasst weden, sondern das Ergebniss einer Anweisung des Dozenten sind und zum anderen sind unteschiedlichen WIKI- und Forensoftwar unterschiedlich “hip” und beliebt. Für uns als Lehrende sollte es ausreichen zu wissen, dass wir Tools einsetzen mit denen die Lernenden umgehen können. Bisher wählen wir die eingesetzten Tools aber eher nach dem Hörensagen aus – das heißt, nach vereinzelten studentischen Empfehlungen - evaluieren aber noch nicht systematisch, welches nun in der Studentenschaft die meistgenutzte Forensoftware ist. Vielleicht geht es sinnvoll auch nicht anderes, da die Bandbreite der Tools derzeit so groß ist, dass man daraus immer nur eine Auswahl treffen kann, die gegebenenfalls nach zwei bis drei Jahren überholt ist.

StefanK: Gibt es Belege für die Unerwünschtheit von Web 2.0 bei den Studierenden? Meine Erfahrungen sind da ganz andere.

Ullrich Dittler: Gerne gewähre ich an dieser Stelle Einblick in Erfahrungen, die Kollegen im Land Baden-Württemberg oder in der benachbarten Schweiz gemacht haben: So wurden beispielsweise in einer Veranstaltung in der Schweiz die Studierenden gebeten, ihre Lernerfahrungen in Blogs zu dokumentieren. Es zeigte sich, dass einige Studierende sich durchaus auf diese Aufgabe eingelassen haben und sehr persönliche und sehr ausführliche Lernblogs verfassten. Andere Studierende näherten sich der Aufgabenstellung eher mit einer ausgeprägt arbeitsökonomischen Perspektive und schrieben lediglich kurze Pflichtbeiträge. Diese waren aber inhaltlich dann nicht besonders ergiebig.

An dem Beispiel sehen wir, dass es vermutlich dann ein Grundproblem gibt, wenn man ein Medium wie Blogs - das geprägt ist durch das Verständnis einer sehr persönlichen oder intimen, tagebuchartigen Darstellung von Inhalt - dahingehend instrumentalisiert wird, dass dessen Beiträge notenrelevant sind. Die Freiwilligkeit des Blogschreibens wird dann zur Pflichtaufgabe. Aber es gibt auch andere Beispiele, wo z.B. das Schreiben von Blogbeiträgen im Unterricht sehr gut funktioniert. Ebenfalls in einer Schweizer Veranstaltung wurden Studententeams gebeten, die Ergebnisse aus Experteninterviews in Blogs allen Seminarteilnehmern zugänglich zu machen. Hier entstanden sehr ausführliche und sehr umfangreiche und informative Blogbeiträge.

StefanK: Ok, aber Lernblogs und Web 2.0 sind ja eigentlich nicht in einen Topf zu werfen; die Zurückhaltung hat wohl vermutlich mit der Nicht-Gewohntheit des Studierenden zur Refexion zu tun.

Elena: StefanK: Ein bedenkenswerter Hinweis!

Ist der “private” Charakter von Web 2.0 ein Problem? Welche Bedeutung haben andere soziale Netzwerke?

Rolfe: Was versprechen Sie sich beispielsweise durch den Einsatz von Blogs? Warum muss man so ein privates Medium im Universitätsbetrieb nutzen? Ist doch irgendwie gar nicht passend

Ramona: Aber fühlen sich die Studenten nicht von den Profs "beobachtet", wenn sich sich in Foren austauschen?

Ullrich Dittler: Es ist durchaus richtig, dass Studierende sich auch überlegen, welches Bild sie dem Dozenten gegenüber mit ihrem Engagement beispielsweise in Blogs und Foren abgeben. Auf der anderen Seite stellen sehr viele Studierende große Teile ihres Privatlebens in persönlichen Blogs, in StudiVZ-Einträgen, in XING-Einträgen, auf privaten Webseiten usw. ins Netz. Es ist durchaus manchmal spannend – beispielsweise bei der Betreuung von Abschlussarbeiten – in privaten Blogs eher über die Probleme und Schwierigkeiten dieser Arbeiten lesen zu können und in den Sprechstunden das Gefühl vermittelt zu bekommen, dass die Arbeit glatt und problemlos vonstatten geht. Auch hier stellt sich für den Dozenten die Frage, inwieweit er die Information aus privaten Webeinträgen, die wohl eher für Kommilitonen gedacht sind, in der Sprechstunde thematisiert. Es ist sicherlich nicht hilfreich, sich direkt auf die entsprechenden Blogbeiträge zu beziehen, aber es kann vielleicht eine Hilfestellung sein, auf Probleme als potentielle Probleme hinzuweisen und deutlich zu machen, wie denn Lösungen für derartige Probleme aussehen könnten oder in welcher Richtung der Student noch stärker bei seinen Recherchen suchen sollte.

sapereaude!: Wäre es nicht sinnvoll, beim e-Learning mit vorhandenen "Social Networking Systemen" zusammenzuarbeiten und deren Infrastruktur zu nutzen? Bspw. eine "General-Studies-Lehrkooperation" mit StudiVZ zu starten? Oder E-Teaching-Managementkurse mit Xing?

Ullrich Dittler: In vielen Bereichen greift die E-Learning-Community auf die etwas ältere Form von Social Networks zurück. Entsprechende Tagungen zu E-Learning in der Hochschullehre finden regelmäßig von verschiedenen Veranstaltern oder Interessengruppen getrieben statt. Sie sind eine sehr gute Gelegenheit zum Austausch mit Kolleginnen und Kollegen über deren Erfahrungen bezüglich des Einsatzes elektronischer Lehr- und Lernmedien. Neben Online-Educa in Berlin und LearnTec in Karlsruhe ist hier vor allem die jährliche GMW-Tagung zu nennen, die 2009 im September in Berlin stattfinden wird. Darüber hinaus stellt aber gerade ja auch e-teaching.org die von Ihnen angesprochene elektronische Form einer E-Learning-Community dar.

Welche eigenen Erfahrungen haben Sie mit Web 2.0 und der Beteiligung von Studierenden?

Ullrich Dittler: Ziel des Einsatzes von E-Learning oder E-Learning 2.0 ist es nach unserem heutigen Verständnis, die Qualität der Lehre zu verbessern. Das heißt, es geht nicht mehr darum, die Menge des Präsenzunterrichtes zu verringern, sondern darum, die Studierenden auch über die Präsenzveranstaltung hinaus zur Beschäftigung mit dem Themenfeld der Veranstaltung zu unterstützen. In diesem Sinne funktionieren beispielsweise auch veranstaltungsbegleitende Foren, in denen Studierende mögliche Klausurfragen sammeln können.

Ich selbst mache seit einigen Semestern die Erfahrung, dass es zunächst Verwunderung auslöst, wenn man Studierende dazu einlädt, in einem Forum mögliche Klausurfragen zu sammeln und als Anreiz verspricht, dass - wenn die dort gesammelten Fragen spannender, cleverer und sinnvoller sind, als die Aufgaben, die man sich als Dozent selber überlegt - auch teilweise in der Klausur Verwendung finden. Zunächst wusste ich auch nicht, worauf ich mich dabei einlasse Es zeigte sich aber sehr schnell, dass nicht nur zahlreiche Fragen im Forum gesammelt werden, sondern dort auch die Antworten sehr differenziert diskutiert werden. Das Ziel dieser Fragensammlung war damit erreicht: die Studierenden zur reflektiven Auseinandersetzung mit dem Lernstoff zu bewegen. In diesem Sinne können E-Learning 2.0-Tools den Präsenzunterricht unterstützen.

jweissenboeck: Experimentieren Sie auch in Ihren eigenen Lehrveranstaltungen mit Web 2.0 Anwendungen? Wenn ja, welche Erfahrungen machen Sie als Lehrender dabei?

Ullrich Dittler: Ja natürlich, auch ich probiere in meinen Veranstaltungen vieles aus, wenn auch nicht alles erfolgreich. Das oben genannte Beispiel mit dem Klausurforum war sicherlich erfolgreich. Ein Beispiel, das bei mir weniger erfolgreich war, war der Aufbau eines Fach-Wikis im Rahmen einer Grundlagenvorlesung: Ich bat die Studierenden im ersten Semester darum, in der Vorlesung auftauchende Begriffe die ihnen unbekannt sind, zu sammeln. Im Anschluß wurde jeweils ein Verantwortlicher für den Begriff benannt, der diesen Begriff im Veranstaltungs-Wiki erklärt. Es zeigte sich leider sehr schnell, dass die Begriffserklärungen meist nur aus Wikipedia mit Copy & Paste übernommen wurden und damit nicht die gewünschte Tiefe der Diskussion entstand. Dieses Vorgehen habe ich zwischenzeitlich beendet und stattdessen ein paar fundierte Fachlexika für die Bibliothek angeschafft.

Ein anderes Thema, an dem wir im Moment arbeiten, ist der Einsatz von Audio- oder Video-Podcasts im Sinne von Vorlesungsaufzeichnungen für unsere Studierenden. Geboren wurde dieser Einsatz von Vorlesungsaufzeichnungen bei uns aus einer Notlage heraus: Da uns leider kurzfristig eine Lehrbeauftragte für eine Pflichtveranstaltung absagte, mussten wir eine Veranstaltung im Folgesemester nachholen, während viele der Teilnehmer im Auslandsemester waren. Wir haben diese Veranstaltung als Videopodcast montagabends in Furtwangen produziert, so dass sie von den Studierenden weltweit ab Dienstag früh abgerufen werden konnte. In den wöchentlichen Podcast-Beiträgen erhielten die Studierenden jeweils kleine Arbeitsaufträge, die sie innerhalb einer Woche zu erledigen hatten, um sicher zu stellen, dass sie auch regelmäßig an der Veranstaltung teilnahmen - und nicht erst am Semesterende alle Aufzeichnungen in einem Block rezipierten. Das Feedback, das ich auf diese Veranstaltungen hin von den Studierenden erhielt, war teilweise sehr viel persönlicher und zeigte eine stärkere Auseinandersetzung mit den Veranstaltungsinhalten, als dies bei Präsenzveranstaltungen üblich ist.

Michaelis: Hat Web 2.0 was mit freiwilligem Engagement der Lerner zu tun? Wenn nicht, was ändert sich für die Gestaltung der Lehre?

Ullrich Dittler: Nach der Form wie Web 2.0-Angebote außerhalb der Hochschule genutzt werden, ist die Freiwilligkeit der Nutzung ein zentrales, wenn nicht das zentrale Element. Wie oben bereits angesprochen, kann es dann zum Problem werden, wenn dieses durch Freiwilligkeit gekennzeichnete Medium zu einem Pflichtelement einer Vorlesung wird.
Auf die Lehre haben die Web 2.0-Elemente im Grunde die gleichen Auswirkungen wie andere Lehr- und Lernmedien auch: Sie zwingen den Lehrenden dazu, sich mit der Gestaltung seines Unterrichts, immer und immer wieder zu beschäftigen und sind so sicherlich ein möglicher Motor für die Qualitätsverbesserung der Lehrveranstaltung. Aus hochschuldidaktischer Sicht ist dabei vielleicht gar nicht so entscheidend, ob nach diesen Überlegungen zur Veranstaltungsgestaltung E-Learning 2.0 -Tools zum Einsatz kommen oder nicht. Wichtig ist, dass der Dozent sich über die Unterrichtsgestaltung Gedanken macht!

Lari: Ist es nicht so, dass im Endeffekt die Profs von den Studenten in Sachen Web 2.0 lernen können?

Ullrich Dittler: Zweifellos ja. Sicherlich haben Studierende einen sehr guten Überblick über das ein oder andere Tool, das sinnvoll in den Unterricht integriert werden kann.

Gibt es doch eine Netgeneration? Wie steht sie zu klassischen (E-Learning-)Lernformen an Hochschulen?

timo: Gehen Sie davon aus, dass es entgegen der Forschungslage z.B. bei Herrn Schulmeister doch eine Netgeneration gibt?

tessi: Evaluieren Sie auch, welche Tools die Studenten der Netgeneration im Endeffekt überhaupt benutzen wollen?

Ullrich Dittler: Richtig ist, dass wir bei der großen Gruppe derer, die wir bisher als "Studierende" bezeichnet haben, auf ganz unterschiedliche Medienkompetenz zurückgreifen können:
Informatikstudenten beispielsweise nutzen privat vermutlich schon länger Web oder Web 2.0-Technologien, als dies bei Studenten weniger technischer Fächer der Fall ist.
Auch ich habe mit großem Interesse den Beitrag von Herrn Schulmeister im e-teaching.org-Chat verfolgt. Nach meiner subjektiven Wahrnehmung kommt nun langsam eine (Net-)Generation an die Hochschulen, die sich durch den Medienkonsum auszeichnet, wie er in der KIM -, der JIM-Studie oder der ARD-ZDF-Studie erhoben wurde. Dieser Eindruck kann aber durchaus dadurch zustande kommen, dass sich bei den Studenten, mit denen ich es mehrheitlich zu tun habe - also Studenten der Medieninformatik und der Onlinemedien - um eine besonders medienaffine Zielgruppe handelt. Zugespitzt formuliert: Diese Studenten checken morgens vor dem Frühstück als erstes ihre Mails und schreiben anstatt in die Sprechstunde zu kommen aus dem benachbarten PC-Pool zeitgleich eine Anfrage per Mail an den Dozenten. Offen ist noch die angesprochene Frage nach der Evaluation: Schwierig ist es immer, den Erfolg zweier Lehrformen miteinander zu vergleichen. Wir haben aber Kollegen im Haus, die den Erfolg der Teilnehmer einer Präsenzveranstaltung mit dem Erfolg der Teilnehmer verglichen haben, die eher auf Vorlesungsaufzeichnungen im Sinne von Lecture-Capturing zurückgegriffen haben. Dabei zeigt sich zunächst, dass nicht mehrheitlich auf die Vorlesungsaufzeichnungen zurückgegriffen wurde um daheim bleiben zu können und der Hörsaal nicht leer blieb. Der größte Teil der Studierenden besuchte auch weiterhin die Präsenzveranstaltungen und nutzte die Vorlesungsaufzeichnungen als zusätzliches Medium, neben Script und ihren eigenen Notitzen.

Die Studierenden, die in der Regel aus gesundheitlichen oder organisatorischen Gründen nicht an der Präsenzveranstaltung teilnehmen konnten, waren aber in den Klausuren nicht auffällig; weder besser noch schlechter. Dies ist aber als Ergebniss einer persönlichen Beobachtung zu verstehen und es ist sicherlich kein belastbares Forschungsergebnis.

sigrun strauss-rapps: Widerspricht diese Einschätzung der Zielgruppe nicht dem im Chattitel formulierten Thema?

Ina: Die Sicht der Studierenden wurde noch gar nicht thematisiert ... Weshalb genau ist es jetzt unerwünscht?

Ullrich Dittler: Danke, dass Sie mit dieser Frage die Studierenden, die bei unseren Lehr- und Lernprozessen im Mittelpunkt stehen sollten, stärker in die Diskussion einbringen. Zwei der wesentlichen Aspekte wurden schon angesprochen: Das ist zum einen der Mehraufwand der zusätzlich zur Präsenzveranstaltung auch für die Studierenden entsteht. Und zum anderen die Angst, dass das individuelle Engagement der Studierenden mitgeloggt und damit für den Dozenten einsehbar wird.
Gerade diese Angst der möglichen Kontrolle wurde ja auch an vielen Hochschulen schon thematisiert als Learning-Management-Systeme (LMS) eingeführt wurden. Bei uns beispielsweise - und das ist sicherlich an anderen Hochschulen auch zu beobachten gewesen - baten einige AStA-Vertreter darum, die Lernplattform auch aus Sicht der Lehrenden prüfen zu dürfen, um zu sehen, ob und welche Möglichkeiten der Lehrende hat, tatsächlich auch auf individuelle Daten der Studierenden (wie beispielsweise den regelmäßigen Abruf von Skripten) zugreifen zu können.

sigrun strauss-rapps: Meine These ist: Studierende vergleichen "traditionell themenorientierte" und "kollaborativ prozessorientierte" Veranstaltungen und bewerten letztere dann als "unstrukturiert", "anstrengend". Die Rollenerwartung an Hochschullehrende ist ein Hindernis für didaktisch moderner gestaltete Lehre. Gleichzeitig bestätigen die Studierenden angebotenen On-Line-Verwaltungsangeboten den distributiven Nutzen des Internets.

Annet: Frau Strauss-Rapps: Also tatsächlich eher Rezeption als Partizipation?

sigrun strauss-rapps: Meine Antwort an Annet: Ja. Im Feedback zu einer Lehrveranstaltung mit 58 Teilnehmenden merkte ein (!) Student positiv an, dass er sich angeregt gefühlt hätte durch die interaktiven Möglichkeiten der Lernplattform MOODLE (WIKI + Foren).

Ullrich Dittler: Viele Lehrende nutzen die Lehr-Lern-Infrastruktur sicherlich zunächst noch distributiv und unterstützen damit zunächst eine rezeptive Haltung der Studierenden. Das heißt, an vielen Hochschulen werden Lernmedien über LMS an die Studierenden weitergegeben, ohne dass spezifische Veranstaltungsformen und die sich zusätzlich ergebenen Möglichkeiten der elektronischen Lernmedien ausreichend berücksichtigt werden. Da die Lehrenden, die dies tun, im Sinne der Early Adopter, meistens auch durch innovative und moderne Präsenzlehre bekannt sind, bin ich nicht sicher, ob die oben genannten Rollenerwartungen tatsächlich ein Hindernis darstellen. Richtig ist aber zweifellos, dass die Rolle der Lehrenden sich durch die Möglichkeiten der elektronischen Lehr- und Lernmedien ändert und wir mitten in einem Lernprozess stecken.

Verändert der Einsatz von Web 2.0 die Lernkultur?

Lars Bücken: Inwiefern hat die Abneigung nicht auch etwas mit einer neuen Lernkultur zu tun, die sich zuerst etablieren muss?

Ullrich Dittler: Mit der Änderung der Veranstaltungsform und der zunehmenden Bedeutung von Selbstlernphasen, wie sie beispielsweise in Bachelor-Studiengängen festgeschrieben sind, ändert sich zweifelsfrei auch die Lernkultur. George Siemens hat mit dem Ansatz des "Konnektivismus" hierzu vor wenigen Jahren ein lerntheoretisches Modell vorgelegt, von dem wir in den nächsten Jahren sehen werden, inwieweit es geeignet ist, die zunehmende Bedeutung von Selbstlernphasen zu beschreiben. Auffällig ist, dass neben der institutionellen Form des Lernens, wie es an Hochschulen betrieben wird, sich zunehmend ein Bereich des nicht-institutionellen Lernens, beispielsweise im Bereich des Hobbys, etabliert.
Vielleicht stehen wir am Wechsel von institutionellen und medialen Lernwelten, die durch die Einführung der Mediendidaktik durch Comenius geprägt war, hin zu einer postmedialen Lernwelt.

Anonym: Stichwort Lernkultur. Passen die etablierten Lernkulturen an den Hochschulen zur Philosophie Web 2.0?

Ullrich Dittler: Nein, vermutlich nicht. Vielerorts ist die Lernkultur an Hochschulen noch geprägt vom klassischen Gedanken des Präsenzunterrichts, ausgehend von einem Lehrenden als Kompetenzträger, im Sinne einer unantastbaren fachlichen Koriphäe. Zunehmend wichtiger werden aber auch für den Hochschulalltag Lernprozesse, die getragen werden von der Gleichartigkeit der lehrenden und lernenden Individuen und deren Kooperation und Kollaboration. In Fachcommunities zeichnen sich Diskussionen dadurch aus, dass die Beteiligten gleichermaßen Kompetenzträger und Fragensteller sind und durch ihre Beteiligung an den Diskussionen zum einen Wissen vermitteln und zum anderen auch selber lernen - im Sinne von Lernen-durch-Lehren. Diese neuen Formen prägen bisher stärker das außerhochschulische Lernen, werden aber zunehmend auch in die Hochschule einfließen.

Wie hat sich E-Learning an Hochschulen entwickelt und verändert?

Isabella: Welche Web2.0-Werkzeuge werden an Hochschulen bevorzugt eingesetzt? Warum?

Ullrich Dittler: Über den Einsatz von Blogs haben wir schon gesprochen. Zum Einsatz von Wikis hatte ich nur ein negatives Beispiel genannt, dennoch gibt es auch an Hochschulen funktionierende Autorenschaften und Verantwortlichkeiten für Wikipedia-Beiträge. Der Einsatz von Foren ist sicherlich an vielen Hochschulen üblich, und auch Vorlesungsaufzeichnungen in Form von Podcasts oder Video-Podcasts sind nicht mehr unüblich; zahlreiche Beispiele hierzu hat Frau Annette Stöber im entsprechenden E-Teaching.org-Chat vorgestellt.
 Andere Formen, wie beispielsweise das Abbilden von Lehrveranstaltungen in virtuellen Erlebniswelten wie Second Life, haben sich, so zumindest mein Eindruck, nicht durchsetzen können. Ein Beispiel, das mir dazu einfällt, ist ein Vortrag eines italienischen Kollegen, den er als Avatar in Second Life gehalten hat. Bei Betrachten dieses Beitrags wird deutlich, welche Probleme aus dieser veränderten Lehrwelt auch für den Rezipienten auch bei der Rezeption entstehen.

Moderator: Die ersten 60 Minuten unseres Chats sind schon um. Hier gibt es aber noch viele offene Fragen. Können wir einige Minuten verlängern, Herr Dittler?

Ullrich Dittler: Ja, gern.

TMeyer: Kann es sein, dass E-Learning-Angebote von Studenten nicht genutzt werden, da sie der Meinung sind, dass diese noch nicht völlig ausgereift seien? Wie ist hier der Stand der Technik?

Ullrich Dittler: Lange Zeit war die Situation von E-Learning-Angeboten an der Hochschule dadurch gekennzeichnet, das aufwändige Lernmedien über einen längeren Zeitraum hinweg konzipiert und realisiert wurden. Dabei wurden teilweise hervorragende Lehrmedien geschaffen, wie mit Blick in die Finalistenliste des Medida-Prix eindrucksvoll zu sehen ist. Der große Aufwand, der teilweise in diese, aus nationalen Förderungen unterstützten, Projekten geflossen ist, ist für viele Hochschulen aus eigenen Reihen nicht zu stemmen. Wir werden daher zukünftig vermutlich zunehmend weniger derartige "große" Lehrmedien in den Hochschulen sehen, sondern stärker auf die kleineren und weniger aufwändigen Informations- und Lehrmedien zurückgreifen, wie sie mit E-Learning 2.0 und Web 2.0-Tools generiert werden können.

StefanK: Wäre das Konzept der "Personal Learning Environments" Ihrer Ansicht nach eine Möglichkeit, den Studierenden mehr Freiräume der Gestaltung zu übertragen?

Ullrich Dittler: Während die frühen Lernprogramme sich oft dadurch auszeichneten, dass sie eben nicht auf persönliche Lernvorlieben oder persönliche Wissensstände reagieren konnten, greifen PLEs - wie dies auch schon bei den intelligenten tutoriellen Systemen realisiert wurde - stärker auf individuelles Vorwissen der einzelnen Lernenden zurück. Diese stärkere Individualisierung und Rücksichtnahme auf den Lernenden ist sicherlich eine der Voraussetzungen für eine stärkere Akzeptanz der elektronischen Lehr-und Lernformen.

joker: Für die Schule rufen ja schon manche: Lasst uns mal in Ruhe arbeiten, Schluss mit den ständigen Reformen. Könnte das hier nicht genauso eintreten? Warum soll ich als Hochschullehrer den Web2.0-Tools hinterherhecheln? Nächstes Semester gibts doch schon neue ... Will sagen, die überzeugenden Potenziale müssen ja noch erarbeitet und vermittelt werden. Wir reden viel über könnten/sollten usw.

Ullrich Dittler: Richtig ist sicherlich, dass einige oder viele der Tools, die wir heute in die Lehre einbinden, in einigen Jahren nicht mehr die große Bedeutung spielen, die wir ihnen heute vielleicht zuordnen. Auf der anderen Seite werden sich auch einige Tools zweifellos im Alltag und im Hochschulalltag etablieren. Auch wenn jeder Einsatz und die zuvor notwendige konzeptuelle Überarbeitung einer Lehrveranstaltung einen Mehraufwand für den Lehrenden darstellen, ist gerade diese Auseinandersetzung mit der eigenen Veranstaltung aus hochschuldidaktischer Sicht sehr wünschenswert und wird in der Regel von den Studierenden auch honoriert.
Nichts ist schlimmer, als das, was mir in meinem eigenen Studium begegnete: Ein Dozent las in einer Vorlesung tatsächlich nur ein 17 Jahre altes Skript vor; eine Vorlesung im schlimmsten Wortsinn!
Die Einführung von Lehr- und Lernmedien, die in der Regel ja auch dann am Ende eines Semesters mit den Studierenden besprochen werden, ist eine gute Basis für eine Diskussion über die Form und die technische Unterstützung der Lehrveranstaltung. Berechtigte Kritik kann dann immer als Impuls zur Verbesserung auch der eigenen Veranstaltung verstanden werden.

Moderator: Aus Zeitgründen leider die letzte Frage für heute. Das "wirklich" in der Frage ist sicher besonders betont:

paul: Ist Web 2.0 bei Studierenden wirklich unerwünscht?

Ullrich Dittler: Ich glaube, es ist deutlich geworden, dass zahlreiche Web2.0-Tools inzwischen zum Alltag von Studierenden gehören. Problematisch kann es dann werden, wenn diese Tools, die von Studierenden eben in einem anderen Kontext genutzt werden, dann Einzug in die institutionalisierte Form der Hochschullehre erhalten.
Wie bei vielen anderen Lehr- und Lerntechnologien auch ist hier für den Erfolg und die Akeptanz dieser mediengestützten Lernelemente die Einbettung in den Präsenzunterricht und die Begleitung und Betreuung durch den Lehrenden ausschlaggebend.

Moderator: So, das war eine gute Stunde (plus Nachspielzeit) e-teaching.org-Expertenchat. Vielen Dank an unseren Experten für die Antworten und vielen Dank an unsere Chatterinnen und Chatter für die Fragen. Der nächste Chat findet übigens schon am 14. November statt. Dann geht es um das Thema: " MeinProf.de - Qualitätsicherung oder Denunzierung?"

Letzte Änderung: 08.04.2015