Smartphones als Forschungswerkzeuge

Moderne Smartphones stellen viele Funktionen, Sensoren, Produktions- und Aufnahmewerkzeuge bereit, die es ermöglichen, forschungsbasiertes Lernen zu fördern. Daher sollten Studierende das Smartphone nicht nur als Kommunikations- und Medienwiedergabegerät begreifen, sondern auch als Forschungswerkzeug kennenlernen.

Kontext

Forschungsbasiertes Lernen ist geeignet, reflektierende und produzierende Kompetenzen aufzubauen. Wissen wird nicht nur erlangt und angewandt, sondern (re-)konstruiert. Dies führt zu einem tieferen Verständnis des Fachwissens, kann neue Erkenntnisse generieren und ermöglicht ggf. auch einen praktischen Zugang zu empirischen Methoden. 

Problem

Für die Erhebung und Speicherung von Daten waren bislang häufig eine Vielzahl unterschiedlicher Geräte erforderlich, z. B. Vermessungsgeräte in der Architektur oder bei Ausgrabungen, Kameras und Aufnahmegeräte für die Erhebung von Daten im Feld oder die technische Ausrüstung für die Erfassung physikalischer Eigenschaften bei Experimenten. Wenn mit einer solchen professionellen Ausstattung gearbeitet wird, ist dies nicht nur kostspielig, sondern es kann auch dazu führen, dass im forschenden Lernen nur ein kleines Repertoire an Methoden eingesetzt wird und dass das vorhandene Equipment bestimmt, mit welcher Methode gearbeitet wird. 

Rahmenbedingungen

  • Angemessenheit der Methode: Zur Beantwortung einer Fragestellung sollte die passende Methode gewählt werden. Je mehr Methoden ihnen bekannt sind, umso größer ist die Chance, dass die Studierenden eine gute Methodenwahl treffen.
  • Messungen und Aufzeichnungen: Messungen und Aufzeichnungen sind für Forschungsprojekte in ganz unterschiedlichen Fachbereichen von zentraler Bedeutung. Smartphones sind mit einer Vielzahl von Sensoren ausgestattet und können durch kostengünstige Zusatzgeräte um weitere Sensoren ergänzt werden, die für wissenschaftliche Messungen und Aufzeichnungen genutzt werden können.
  • Forschung im Feld: Für die Forschung im Feld ist es oft umständlich, professionelles Equipment (z. B. Videokameras) mit sich zu führen. Für Studierende erhöht die Notwendigkeit der Nutzung teurer Geräte manchmal auch die Hemmschwelle, sich an einem Projekt, indem es um forschendes Lernen geht, zu beteiligen. Außerdem sind ggf. nicht für alle Studierenden ausleihbare Geräte verfügbar. Auf der anderen Seite bieten Smartphones Kameras oder Audioaufnahmemöglichkeiten in für solche Projekte häufig ausreichend guter Qualität.
  • Protokollierung: Beobachtungen und Messungen müssen sorgfältig protokolliert und gespeichert werden. Für die automatische Protokollierung oder das manuelle Eintragen von Werten in standardisierte Vorlagen können Smartphone-Apps genutzt werden. Bei der Aufnahme von Fotos werden z. B. automatisch Ort und Uhrzeit mitgespeichert.
  • Augmented Reality: Smartphones können die physische Umgebung mit digitalen Informationen anreichern, z. B. in dem das Kamerabild durch zusätzliche Informationen ergänzt oder mit Filtern verändert wird. So können z. B. auch physische Umgebungen im Rahmen von Exkursionen erkundet werden. Augmented Reality ermöglicht beispielsweise Was-wäre-wenn-Szenarien, um mögliche Zukunftsvisionen aufzuzeigen. Zum Beispiel können neue Objekte in die von der Kamera aufgezeichnete Umgebung eingefügt werden. Auf diese Weise lassen sich Landschaftsaufnahmen verändern (etwa durch das Hinzufügen von Bauwerken, Bäumen oder Spielplätzen, das Austrocken oder Auffüllen von Wasserflächen) oder Bewegungsabläufe simulieren.
  • Smartphones als Alltagsmedium: Studierende haben ihr Smartphone stets dabei und sind mit zahlreichen Funktionen sehr gut vertraut. Doch meist werden diese Funktionen nicht für Forschungszwecke eingesetzt. Studierenden und Dozierenden fehlt oft das Bewusstsein, dass moderne Smartphones eine Vielzahl von Sensoren und Verarbeitungsmöglichkeiten haben. Das Smartphone wird primär als Kommunikationsmittel, als Spiel- und Unterhaltungsmedium, und als Zugriffsmöglichkeit auf Lerninhalte wahrgenommen. Die produktiven Funktionen und Möglichkeiten für Forschungszwecke sind den Studierenden oft nicht bekannt.

Lösung

Methodenkurse oder Projektseminare können so gestaltet werden, dass Studierende für ihre Forschungsprojekte Smartphones verwenden können. Im theoretischen Teil der Lehrveranstaltung sollte behandelt werden, welche Möglichkeiten der Datenerhebung es gibt und welche wissenschaftlichen Standards zu beachten sind. Es bietet sich an, einzelne Forschungsmethoden und -instrumente einer Fachdisziplin auf Funktionalitäten moderner Smartphones zu übertragen bzw. diese unterstützend einzusetzen. Dabei sollten die Möglichkeiten und Grenzen des Mediums gemeinsam kritisch reflektierten werden. Im Rahmen einer Lehrveranstaltung können z. B. etablierte Methoden vorgestellt und die dafür üblichen Messgeräte und Hilfswerkzeuge aufgezeigt werden. Die Vor- und Nachteile des Einsatzes von Smartphones als alternatives Forschungswerkzeug können gemeinsam in der Gruppe diskutiert werden.

Details

Die Möglichkeiten des Smartphones als Forschungswerkzeug sind vielfältig und stellen sich für die einzelnen Fachdisziplinen unterschiedlich dar. Allgemein sollten Studierende lernen, das Smartphone auch als Forschungsinstrument zu begreifen. Sie können etwa Apps und Features recherchieren, die ihnen bei der Forschungsarbeit behilflich sein können. Es geht vor allem darum, die diesbezüglichen Potentiale von Smartphones zu entdecken und ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Smartphones nicht nur für Unterhaltungs- und Kommunikationszwecke, sondern auch für Forschungsarbeiten eingesetzt werden können. Beispiele sind die Nutzung des Audiorekorders für Interviews, die Nutzung der Kamera für Beobachtungen, die Nutzung der Kamera als Bewegungssensor und zum Tracking von Bewegungsabläufen oder die Nutzung von Augmented Reality, z. B. für die Landschaftsplanung oder Architekturkonzepte.

Im Rahmen einer Lehrveranstaltung kann thematisiert werden, in welchen Fällen sich mit dem Smartphone als Forschungswerkzeug Daten in angemessener Qualität erheben lassen (z. B. durch Interviewaufzeichnungen), die Flexibilität erhöht wird (z. B. durch die ständige Verfügbarkeit von Kamera und Notizfunktionen), Prozesse automatisiert werden können (z. B. durch die regelmäßige Messung von Umgebungsinformationen oder das Auswerten von Daten), neue Möglichkeiten zur Verfügung stehen (z. B. für die Bildanalyse) und in welchen Fällen Messungen mit dem Smartphone nicht präzise genug sind (z. B. für das Eye-Tracking) oder gänzlich ungeeignet sind (z. B. für hochsensible Messungen). 

Stolpersteine

  • Smartphones erleichtern die Erhebung von Daten, sie machen aber nicht das eigentliche Forschen leichter. Die Nutzung eines Forschungsgeräts führt nicht automatisch zu guter Forschung. Es besteht die Gefahr, dass durch den einfachen Zugang zu Daten die Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Grundlagen nicht sorgfältig genug ausfällt. Denn eine solche Auseinandersetzung ist nicht unbedingt erforderlich, um das Instrument zu nutzen bzw. Zugang zu dem Instrument zu erhalten. Sie ist aber sehr wohl erforderlich, um das Instrument richtig zu nutzen und die Daten angemessen auszuwerten. Dozierende sollten dies bei der Planung ihrer Lehrveranstaltung berücksichtigen und mit der Vermittlung wissenschaftlicher Grundlagen und Standards der Datenerhebung zunächst eine solide Basis schaffen, bevor Studierende beginnen empirische Methoden zu erproben.
  • Die Vielzahl der unkompliziert verfügbaren Möglichkeiten der Datenerhebung mittels Smartphone kann dazu führen, dass auf eine bessere Ausrüstung verzichtet wird, obwohl diese methodisch angemessener wäre. Für Interviews kann es z. B. sinnvoll sein, Spezialsoftware für die Aufnahme und Analyse einzusetzen anstelle der Standard-App des Smartphones. Auch bei physikalischen Messungen können extern angeschlossene Geräte oft bessere Daten liefern als die im Smartphone eingebauten Sensoren (z. B. eine präzisere Messung von Beschleunigung, Temperatur oder Geräuschpegel). Es lohnt sich ggf. auch im App-Store nach spezifischeren Anwendungen für das Smartphone zu suchen.
  • Da Smartphones den Planungsaufwand verringern, können schnell wichtige Rahmenbedingungen übersehen werden. Ein gut vorbereitetes Interview berücksichtigt z. B. eine angemessene Umgebung ohne Ablenkungen und Störgeräusche. Die Nutzung eines Smartphones ermöglicht die unkomplizierte Durchführung eines Interviews, z. B. in einem Café. Hintergrundgeräusche und parallel laufende Gespräche können jedoch die Auswertung erschweren.
  • In vielen Fällen ist die Qualität von Daten, die mittels eines Smartphones erhoben wurden, gut genug. Wenn es aber um präzise Messungen oder die formale Dokumentation von Beobachtungen (z. B. durch Kameraaufnahmen aus mehreren oder ganz bestimmten Perspektiven) geht, muss auf professionelles Equipment umgestiegen werden. Studierende sollten kompetent werden, einschätzen zu können, wann das Smartphone ausreicht und wann professionelle Geräte erforderlich sind. 

Vorteile

  • Das Smartphone bietet eine Vielzahl von Möglichkeiten der Datenerhebung, so dass vielfältigere Forschungsmethoden in der Lehre eingesetzt werden können.
  • Smartphones als Forschungsgeräte erweitern auch die physischen und zeitlichen Forschungsräume. Dies gilt insbesondere für Feldstudien.
  • Forschungsbasiertes Lernen wird einfacher in Lehrveranstaltungen integrierbar, da alle Studierenden über die benötigten Mess- und Erhebungsinstrumente verfügen. Erhebungen können leichter und häufiger durchgeführt werden.
  • Studierende sehen im Smartphone nun nicht nur ein Lernwerkzeug, sondern auch ein Forschungswerkzeug. Sie werden ermutigt und ermächtig, eigene Forschung zu betreiben.
  • Die Protokollierung und Analyse erfolgen oft automatisiert.

Nachteile

  • Die oberflächliche Auseinandersetzung mit dem Forschungswerkzeug und der niedrigschwellige Einstieg können dazu führen, dass nur scheinbar geforscht wird. Es ist z. B. sehr leicht mit einem Smartphone ein Interview aufzuzeichnen, automatisch zu transkribieren und die Daten in irgendeiner Form auszuwerten. Die gewissenhafte Durchführung, die angemessene Auswahl von Fragestellung und Analysemethoden könnten dabei aus dem Blick geraten.
  • Wenn die Datenerhebung zu einfach und kostengünstig ist, kann schnell viel „Datenmüll“ entstehen. Das Auffinden und Analysieren der brauchbaren Daten kann zeitintensiv werden, wenn einfach „drauf los“ erhoben wird.
  • Personenbezogene Forschungsdaten müssen geschützt werden. Gerade bei der Nutzung von Smartphone-Apps besteht die Gefahr, dass nicht sensibel genug mit persönlichen Daten umgegangen wird. Dabei können sowohl rechtliche als auch forschungsethische Standards schnell verletzt werden, wenn z. B. Bilder zu lange (oder unerlaubt) gespeichert oder per Messenger-Dienst geteilt werden. 

Beispiele

An der Universität Bremen haben Master-Studierende in einem Projektseminar eine App entwickelt, die Akkustiksensoren nutzt, um genaue Informationen über die räumliche Orientierung zu erhalten. Die Entwicklung der Anwendung Tiltification ist ein Beispiel für forschendes Lernen.

Die an der RWTH Aachen entwickelte Physik-App Phyphox ermöglicht in der Lehre an Hochschulen und Schulen, mit dem Smartphone physikalische Experimente durchzuführen, indem z. B. mittels Beschleunigungssensor die Frequenz eines Pendels gemessen wird oder ein Lichtsensor als optische Stoppuhr verwendet wird.

Auch Citizen-Science-Projekte nutzen vielfach das Potenzial des Smartphones als Forschungswerkzeug. So sammeln beispielsweise in dem von der Technischen Universität München koordinierten Verbundprojekt Baysics Bürgerinnen und Bürger mittels Smartphone verschiedene Daten für die Erforschung der Auswirkungen des Klimawandels auf Pflanzen und Tiere in Bayern. Ein anderes Beispiel ist das von der TU Chemniz koordinierte Verbundprojekt OPENER next, in dem Bürgerinnen und Bürger mit ihren Smartphones Daten zur Erfassung von Barrieren im ÖPNV sammeln.

Weitere Informationen

In einem 2019 erschienenen Lehrbuch beschreiben die Herausgeber Jochen Kuhn und Patrik Vogt sowie weitere Autorinnen und Autoren rund 50 Experimente, die sich u. a. mittels Beschleunigungssensoren, akustischen und visuellen Sensoren mit dem Smartphone durchführen lassen (Kuhn & Vogt, 2019).