Fallstudien

In vielen Fachbereichen ist es sinnvoll, Wissen und Kompetenzen durch die Bearbeitung von realitätsnahen Fallbeispielen zu erwerben. Anschließend können die auf diesem Weg erlernten Fähigkeiten auf die Realität übertragen und dem Fallbeispiel gemäß angewandt werden. Multimedial aufbereitete, interaktiv bearbeitbare Fallstudien bieten hier neue Möglichkeiten zur Unterstützung des Lernens und für die Durchführung von Prüfungen.


Vor allem für die medizinischen Fächer ist es unmittelbar einleuchtend, dass das Lernen an realen Fällen einerseits große Vorteile bringen würde, andererseits damit aber auch erhebliche Probleme einhergehen können. Dies betrifft nicht nur die Frage, ob z.B. Krankheitsmerkmale in einer typischen, für Lernende gut erkennbaren Ausprägung vorliegen, sondern mehr noch das Patientenwohl, die Verfügbarkeit von Patienten für große Studierendenzahlen, die Wiederholbarkeit von Übungen usw. Aber auch in anderen Fachbereichen können Fallstudien den Erwerb von aktivem und anwendungsorientiertem, prozeduralen Wissen unterstützen, und auch dort bestehen oft wenig Möglichkeiten, in realen Situationen Aufgaben zu bearbeiten, die dem Wissensstand der Lernenden angemessen komplex und inhaltlich relevant sind.

Die digitale und multimediale Aufbereitung von Fallstudien bietet eine Lösung für viele dieser Probleme. Anhand solcher Fallstudien können Inhalte realitätsnah vermittelt bzw. erarbeitet werden, sie können aber auch zum Self-Assessment oder in formativen oder summativen Prüfungen eingesetzt werden.

Rahmenbedingungen

  • Fallstudien sind auf Problemlösekompetenz und den Transfer von bisher Erlerntem ausgerichtet, können jedoch durch entsprechende Aufgabenstellungen auch mit der Überprüfung von Faktenwissen kombiniert werden.
  • Aufgabenstellungen sollten realitätsnah und authentisch sein und dem Vorgehen bei der Problemlösung im Realfall entsprechen.
  • Ein hoher Grad an Interaktivität sollte gegeben sein.
  • Die Lernenden sollten ein spezifisches Feedback zu den bearbeiteten Aufgaben bekommen.
  • Sollen Fallstudien auch in Prüfungen einbezogen werden, müssen sie entsprechend in die Prüfungsordnungen integriert und die Voraussetzungen für rechtssichere Prüfungen (Anmeldeverfahren, Datenschutz, Ausfallsicherheit usw.) geschaffen werden.

Lösung

Die digitale Aufbreitung von Fallbeispielen ermöglicht durch die Einbindung von Bildern, Videos oder Tonsequenzen ein hohes Maß an Anschaulichkeit und Realitätsnähe und bietet – oft sogar durch komplette Simulationen – zahlreiche unterschiedliche Übungsmöglichkeiten. Auf diese Weise es ist möglich, identische und wiederholbare Lern-, Übungs- und Prüfungsbedingungen für viele Lernende zur Verfügung zu stellen und so zugleich auch organisatorischen und personellen Kapazitätsproblemen entgegen zu wirken.

Details

  • Fallstudien können je nach Fachrichtung und vorhandenen Ressourcen sehr unterschiedlich umgesetzt und aufbereitet werden, von eher textlichen Beschreibungen bis zu komplexen Simulationen.
  • Je nach Lernziel und Fachbereich können die Lernenden auf unterschiedliche Weise unterstützt werden. Dabei kann die Hilfestellung von der Hinführung zur Lösung eines Falls durch angeleitete, schrittweise gestaltete Programme bis zu völlig frei navigierbaren Umsetzungen variieren.
  • Insbesondere für die Medizin existieren zur Unterstützung der Umsetzung bereits verschiedene Autorensysteme, die es z.B. ermöglichen einen „virtuellen Patienten“ anzulegen, eine Szenarienfolge vorzugeben usw. (z.B. CAMPUS-Pädiatrie und CASUS, vgl. Beispiele unten).
  • Mit diesen und einigen anderen Programmen können Fallstudien erstellt werden, die nicht nur für ein konkretes Lehr-/Lernszenario entwickelt und dort eingesetzt werden. Damit wird es ermöglicht, Fallstudien modular in unterschiedlichen Lern- und Prüfungssituationen einzusetzen und adaptiv mit verschiedenen Aufgabenstellungen und den jeweils notwendigen Zusatzinformationen zu versehen (vgl. Reinecke et al. 2007).

Stolpersteine

  • Viele fallstudienbasierte Aufgaben sind so konzipiert, dass mit jedem Schritt neue Informationen hinzukommen, die unter Umständen Antworten auf bereits bearbeitete Fragen geben. In Prüfungssituationen muss deshalb sichergestellt werden, dass der Zugriff auf die bereits gegebenen Antworten nicht mehr zugelassen wird.
  • Häufig werden bei fallbeispielbasierten Prüfungen Freitextaufgaben eingesetzt. Dies kann bei der elektronischen Auswertung problematisch sein, wenn bereits geringfügige Orthografiefehler zu einer falschen Bewertung der Antwort führen. Eine Alternative bietet das sog. Lange Listen System (Long Menu System). Dabei wird eine „unüberschaubar“ lange Liste von Antworten vorgegeben, aus der durch Eingabe des Anfangsbuchstabens die richtige herausgesucht wird. Auf diese Weise wird das Problem der Fehlerintoleranz umgangen, zugleich verhindert die große Zahl von Antwortalternativen das Erraten der richtigen Lösung (vgl. Schuwirth et al. 1996 und Huwendiek et al. 2006).
  • Ein weiteres Problem bei fallstudienbasierten Aufgaben ist die Zeit, die nötig wäre, um einen Fall in Echtzeit zu bearbeiten. Dies wäre vor allem in einer Prüfungssituation entschieden zu lang. Dieses Problem kann mithilfe des Key-Feature-Ansatzes umgangen werden, der in der Medizin entwickelt, mittlerweile aber auch von anderen Fachrichtungen übernommen wurde. Ein Key Feature repräsentiert einen für die erfolgreiche Lösung eines (klinischen) Problems entscheidenden Schritt. Es fokussiert auf die Schritte, die in der Praxis häufig falsch gemacht werden oder schwierig bzw. entscheidend bei der Lösung des Problems sind (Page und Bordage 1995).

Vorteile

  • Die Realitätsnähe von Fallstudien wird durch die Einbindung von audiovisuellen Medien erhöht. So können optische und akustische Eindrücke dem Realfall entsprechend gestaltet werden.
  • Mit einer fallstudienbasierten Aufgabenstellung und Prüfung lassen sich – je nach Aufwändigkeit der digitalen Aufbereitung – verschiedene Abstufungen von Interaktivität umsetzen, von der Vorgabe von Multiple-Choice-Antworten über Spracherkennung und nonverbale Kommunikation bis zur Simulation.
  • Ein digitales System zu Darstellung von Fallbeispielen ist auch für Self-Assessment und formatives Prüfen gut geeignet, da die Anzahl der möglichen Übungsdurchgänge variabel vorgegeben und das Feedback automatisiert werden kann.
  • Einmal entwickelt, kann mit Fallstudien der Personalaufwand bei der Korrektur sowie bei der Betreuung verringert werden. Zudem lässt sich Material einsparen und Raumkapazitätsprobleme können umgangen werden. In der Medizin können virtuelle Patienten gegebenenfalls auch eine Alternative für Laienschauspieler sein, die sowohl zur Übung als auch in der Prüfung eingesetzt werden, um Patienten mit bestimmten Symptomen zu simulieren.

Nachteile

  • Die Entwicklung von komplexen, realitätsnahen Fallstudien kann sehr zeitaufwändig. sein. Dies liegt nicht nur an dem Erstellungsaufwand für Videos und andere multimediale Materialien. Ein zentraler Faktor ist auch die Entwicklung geeigneter didaktischer Konzepte, da sie den Lernenden z.B. Handlungs- und Erfahrungsmuster transparent machen müssen, vor deren Hintergrund erfahrene Praktiker bei der Bearbeitung eines Falles reagieren und entscheiden. So ist es zwar möglich, z.B. mit der CAMPUS-Software einfache Fälle in ca. 5 Stunden zu erstellen, für die Entwicklung komplexer Fallstudien werden jedoch 40 bis 100 Stunden veranschlagt (vgl. Huwendiek 2009 im Interview mit CHECKpoint eLearning)
  • Das E-Assessment mit Fallbeispielen erfordert eine entsprechende technische Ausstattung (Informationen zur Technik im E-Assessment finden Sie hier)
  • Durch Fallstudien und Simulationen können reale Fälle nicht ersetzt werden!

Beispiele

  • Das System CAMPUS-Pädiatrie ist stark an der Realität angelehnt und bietet sehr umfangreiche Möglichkeiten, einen medizinischen Fall darzustellen und zu bearbeiten. Die Studierenden können körperliche und technische Untersuchungen an virtuellen Patienten vorgenehmen (mit abrufbaren Herztönen und Bauchgeräuschen), die getroffenen Diagnose- und Therapieentscheidungen werden überprüft und mit Musterlösungen kontrastiert. Dabei werden die Lernenden nicht durch vorselektierte Auswahlmöglichkeiten eingeschränkt, sondern müssen eigene Diagnoseentscheidungen treffen. Das System wird an der Universität Heidelberg nicht nur zur Übung sondern auch zur summativen Prüfung eingesetzt, an der Universität Heilbronn auch zum formativen Prüfen, um Studierenden und Lehrenden Feedback über den Leistungsstand zu geben. Weitere Informationen zu Campus Pädiatrie finden Sie im e-teaching.org Referenzbeispiel und auf der Homepage der Universitätsklinik Heidelberg.
  • Der INMEDEA Simulator (IS) ist eine internetbasierte Lernplattform, auf der die klinische Ambulanzsituation für die medizinische Aus- und Weiterbildung mit Hilfe einer virtuellen Welt und virtuellen Patienten simuliert wird. Fallbasiert kann in den Ambulanzen ein Krankheitsbild erschlossen oder vertieft werden. Der IS wird auch für Feedback und zur Lernerfolgskontrolle genutzt. Weitere Informationen finden Sie im e-teaching.org-Referenzbeispiel INMEDEA und unter: http://www.inmedea-simulator.net/.
  • Das System CASUS bietet multimedial gestützte Fallstudien, die die Bearbeitenden mit weiterführenden Fragen durch den Fall leiten. Ursprünglich zur Aus- und Weiterbildung von Medizinern entwickelt, wird CASUS mittlerweile auch in anderen Fachbereichen, z.B. Rechtswissenschaften, Anglistik oder Veterinärmedizin eingesetzt und ist inzwischen weit verbreitet. In Deutschland wird es derzeit an 20 Fakultäten und im Rahmen der Virtuellen Hochschule Bayern genutzt, kommt aber auch europaweit (z.B. im Rahmen des EU-Projektes Networm) und in den USA (www.med-u.org/) zum Einsatz. Weitere Informationen zu CASUS finden Sie im e-teaching.org-Referenzbeispiel und auf der Projekthomepage. Auf e-teaching.org finden Sie eine interessante Form der Fallerstellung: An der Stiftung Tiermedizinische Hochschule Hannover werden die Fallstudien im Rahmen des Peer-to-Peer-Lernens von Studierenden für ihre Kommilitonen aufbereitet. Dr. Jan Ehlers beschreibt in einem Erfahrungsbericht, welche Vorteile dies mit sich bringt und wie die Studierenden bei der Erstellung unterstützt werden sollten.
  • Die an der Keele University entwickelten virtuellen Patienten für den Fachbereich Pharmakologie, die auch im Rahmen der Prüfungen eingesetzt werden, zeichnen sich durch einen hohen Grad an Interaktivität aus. Das System verfügt über Spracherkennung, es kann also mit den Patienten gesprochen werden. Außerdem kommunizieren die Patienten auch non-verbal über Gesten, die beispielsweise Schmerz, Stress oder Angst anzeigen. Dabei können verschiedene Erkrankungen von Bluthochdruck bis Verdauungsstörungen simuliert werden. Weitere Informationen bietet die Seite der Keele Universität.
  • Eine Fallstudie aus dem Bereich Wirtschaftsrecht bietet die Leuphana Universität Lüneburg auf ihren Seiten. Die interaktive "Fallstudie Wirtschaftsrecht" richtet sich an Interessierte des entsprechenden Studiengangs und gibt einen Einblick in praktische Tätigkeiten eines Wirtschaftsjuristen.

Weitere Beispiele für virtuelle Fallstudien werden in folgenden Referenzbeipielen von e-teaching.org vorgestellt:

Werkzeuge

Für die oben vorgestellten Beispiele wurden Autorenprogramme entwickelt, die in unterschiedlichen Lizenzen angeboten werden:

  • Die CAMPUS-Software besteht aus unterschiedlichen Komponenten: Mit dem Autorensystem können die Fälle weitgehend ohne Computerkenntnisse erstellt werden, die Abspielkomponente ermöglicht eine realitätsnahe, interaktive Bearbeitung der Fälle und das Prüfungssystem stellt die Komponenten bereit, die zur Durchführung sicherer Prüfungen notwendig sind, sowohl technisch als auch rechtlich. Weitere Informationen sind auf der Projekthomepage zusammengestellt.
  • Das Autorensystem CASUS bietet ein Abspielsystem für Lernende, ein Autorensystem zur Erstellung von interaktiven multimedialen Fallbeispielen sowie eine Kursverwaltung für die Einrichtung von Kursen und die Auswertung der Ergebnisse. Es wird in Lizenzen für Einzelautoren, Kurslizenzen für Fakultäten (d.h. im Bereich Lehre und Forschung) sowie für kommerzielle Anbieter zur Verfügung gestellt. Weitere Informationen bietet die Homepage des Anbieters.

Weitere Informationen:

  • Die Homepage des "Zentrums für virtuelle Patienten" der Medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg, an der das CAMPUS-System entwickelt wurde, informiert nicht nur über Einsatzmöglichkeiten und Praxisbeispiele. Auf dieser Seite sind auch die im Rahmen des Projekts entstandenen Publikationen zusammengestellt. Sie enthalten sowohl grundsätzliche Überlegungen zum fallstudienbasierten Lernen (v.a. in der Medizin) als auch konkrete Hinweise zur Umsetzung, zur Evaluation, Einbindungen in Curricula und zum Einsatz in Prüfungen.
  • Um den hohen Aufwand bei der Erstellung virtueller Patienten zu verringern, haben sich in dem EU-Kooperationsprojekt "Electronic Virtual Patients" (eViP) neun europäische Universitäten und MedBiquitous (Europe) zusammengeschlossen um einen gemeinsamen Pool an Fallstudien zu entwickeln.
  • An der Universität Witten/Herdecke (UWH) werden virtuelle Patienten im Zuge des Projekts medicMed seit 2002 erstmals in Deutschland sogar für das Staatsexamen eingesetzt.
Letzte Änderung: 10.06.2015