Rezension Jürgen Handke & Alexander Sperl (Hrsg.) (2012)

Rezension zu Jürgen Handke & Alexander Sperl (Hrsg.) (2012): Das Inverted Classroom Model. Begleitband zur ersten deutschen ICM Konferenz. Münster: Oldenbourg

Im Februar 2012 fand an der Universität Marburg die erste deutsche Fachtagung zum Inverted Classroom Model (ICM) statt. Die Beiträge des Konferenzbandes sind zwei Hauptabschnitten zugeordnet.

In den fünf Beiträgen des Teils, „Grundlagen und Varianten“ werden unterschiedliche theoretische und auch technische Aspekte des Grundprinzips des ICM vorgestellt. Die Idee des ICM ist eine Umkehrung der üblichen Aktivitäten innerhalb und außerhalb des Klassenraums: Die Inhaltsvermittlung geschieht nicht mehr „vor Ort“, sondern ortsunabhängig, individuell, selbstgesteuert und im eigenen Lerntempo anhand digitaler Lernmaterialien; die Präsenzzeiten an der Schule oder Hochschule werden zur Vertiefung, Diskussion und gemeinsamen Aufgabenbearbeitung genutzt. Hilfreiche Orientierungspunkte sind dabei die Grundfragen eines der „Erfinder“ des Konzepts, Aaron Sams (S. 19): Wozu benötigen die Lernenden die Unterstützung durch den Lehrenden und die Lerngruppe am meisten, und welche Inhalte können, um wertvolle Präsenzzeit zu gewinnen, technologieunterstützt ausgelagert werden?

Entsprechend groß ist die Bedeutung der eingesetzten digitalen Materialien für das Gelingen des ICM. Dabei spielen nach Ansicht der Autoren mehrerer Beiträge Videos eine zentrale Rolle, und mehrere Kapitel befassen sich schwerpunktmäßig mit der Erstellung der Lernvideos, der „wohl größte[n] Herausforderung bei der Umsetzung des Inverted Classroom“ (S. 19). Sie ermutigen u.a. dazu, nicht unbedingt „perfekt“, jedoch zielgruppenspezifisch zu produzieren und geben wertvolle Hinweise zur technischen und didaktischen Gestaltung, etwa zu flankierenden Maßnahmen, die die aktive Auseinandersetzung mit dem Video fördern.

Dennoch ist es irritierend, dass es bereits auf Seite 1 des Buchs heißt, Videos seien zwar „nicht die einzige Grundlage [jedoch …] unverzichtbarer Bestandteil“ des ICM, und an anderer Stelle wird betont, „einfache Materialien wie Texte oder PodCasts“ hätten sich „als nicht geeignet erwiesen“ (Handke, S. 40). Sicher können Videos anregend und unterstützend sein, die Forderung eines zwingenden Einsatzes erscheint jedoch kontraproduktiv, zumal zumindest Braun et al. erwähnen, dass das Umkehrprinzip „vielerorts eine akademische Selbstverständlichkeit“ ist und in geisteswissenschaftlichen Fächern schon seit langem auf der Basis von Texten praktiziert wird. Der Beitrag von Möller in diesem Band zeigt, dass dies auch in der biomedizinischen Forschung möglich ist – also möglicherweise auch abhängig von Zielgruppe, Kontext und eigenen Ressourcen entschieden werden kann. Ebenso verpönt scheint es zu sein, Videos bzw. Lernmaterialien von Kollegen zu verwenden. Doch bedeutet die Nutzung von Open Educational Resources (OER) zwangsläufig, sich „auf den Meriten anderer aus[zu]ruhen“ (S. 21)? Zwar sind viele Autoren des Bandes gerne bereit, von ihnen erstellte Materialien frei zur Verfügung zu stellen; doch die Entwicklung einer echten Kultur des Teilens, die auch das Nehmen anerkennt – etwa weil dies Kapazitäten für andere Lehraktivitäten als die Erstellung von (digitalen) Unterrichtsmaterialien freisetzen könnte –, ist wohl eher ein Thema des COER13

Die sechs Beiträge des zweiten Hauptabschnitts, „Das ICM im Einsatz“, stellen Praxisbeispiele aus so unterschiedlichen Fachbereichen wie Mathematik (Spannagel), Fremdsprachenlernen (Sperl) und sogar Konzertpädagogik (Schmitt-Weidmann) vor. Thematisiert werden dabei u.a. die Kombination mit anderen Methoden, z.B. dem Problem-Based Learning (Möller), Modelle der sukzessiven Einführung des ICM von minimaler über partielle bis zu kompletter Invertierung des Unterrichts (Braun et al.) und schließlich die Gestaltung der Rahmenbedingungen an Hochschulen, etwa die curriculare Verankerung (Handke). Eine wichtige komplementäre Ergänzung der ausführlichen Beiträge zur Produktion von Lernvideos stellen die von Spannagel vorgestellten Überlegungen und Methoden zur Gestaltung der Präsenzphase dar – obwohl in vielen Beiträgen die Bedeutung der Präsenzphase betont wird, werden dazu sonst leider kaum Hinweise gegeben.

Insgesamt bietet das Buch – trotz der genannten Einwände und des für einen relativ schmalen Softcoverband doch recht hohen Preises – einen guten Überblick über die Grundlagen des ICM. Es ist leicht lesbar, und zeigt, auch anhand der lebendigen Einblicke in die Praxis, dass das Modell „keine starr reproduzierbare Methode“ (S. 17) ist. Vielmehr stellt sich das ICM sowohl in der Theorie als auch in der Praxis als ein Work in Progress dar, an dem die Lesenden teilhaben und das auch Skeptiker neugierig macht und dazu anregt, über die eigene Lehrpraxis nachzudenken.

Übrigens: Wer bereits über das Buch hinaus weiterdenken will, sei ebenso auf die Online-Dokumentation der 2. deutschen ICM-Tagung vom Februar 2013 hingewiesen wie auf die Überlegungen in den Blogbeiträgen von Christian Spannagel.

Letzte Änderung: 08.04.2015