Rezension: Beißwenger, Anskeit & Storrer (Hrsg.) (2012)

Beißwenger, Michael, Anskeit, Nadine & Storrer, Angelika (Hrsg.) (2012): Wikis in Schule und Hochschule. Boizenburg: Verlag Werner Hülsbusch

Wikis gehören zu den Web 2.0-Werkzeugen, deren Potenzial zur Unterstützung von Lernprozessen früh hoch eingeschätzt wurde. Verschiedene Untersuchungen haben gezeigt, dass Wikis sich inzwischen tatsächlich stärker in der Lehre durchgesetzt haben als andere Web 2.0-Tools, z.B. Blogs, und auch die Beiträge des vorliegenden Bandes bestätigen dies. So berichtet etwa Claudia Bremer u.a. über die Ergebnisse einer Nutzungsbefragung zu neun strukturell und inhaltlich sehr unterschiedlichen Wiki-Projekten, die allein an der Universität Frankfurt durchgeführt werden. Dennoch zeigt sich insgesamt immer wieder – und auch dies bestätigt der vorliegende Band –, dass in formellen Lernkontexten selbst in ambitionierten Projekten die mit dem Einsatz von Wikis verbundenen Erwartungen oft nicht erfüllt und deren Potenziale nicht ausgeschöpft werden, und dass Arbeits- und Schreibprozesse anders verlaufen als in öffentlichen Wikis, an denen sich die Nutzenden freiwillig beteiligen.

Vor diesem Hintergrund fand im April 2011 an der TU Dortmund ein Workshop mit dem Titel "Wiki-Hypertexte in Lehr-/Lernkontexten" statt, auf dessen Beiträge der von Michael Beißwenger, Nadine Anskeit und Angelika Storrer herausgegebene Band zurückgeht. Alle elf Beiträge berichten von konkreten Projekten aus Schule und Hochschule und reflektieren kritisch die jeweiligen Erfahrungen. Die Schwerpunkte liegen dabei auf Best Practice-Beispielen für den didaktischen Einsatz, Erfahrungen und Herausforderungen bei unterschiedlichen Lerner- und Nutzergruppen und in unterschiedlichen Bildungskontexten sowie den notwendigen Kompetenzen und Rahmenbedingungen.

Die Spannbreite der im Buch vorgestellten Beispiele reicht vom Einsatz in der Grundschule (Anskeit) und am Gymnasium (Schellmann & Eirich) bzw. von der Unterstützung des Schulunterrichts überhaupt (Kirst) bis zur Lehramtsausbildung (Schüler) und der berufsbegleitenden Weiterbildung (Himpsl-Gutermann & Schnabl); die meisten Beiträge kommen allerdings aus dem Bereich Hochschule. Betrachtet werden zum einen die Prozesse bei der kollaborativen Textproduktion in einem Wiki in einzelnen (Seminar-) Veranstaltungen (z.B. Endres; Pelka), zum anderen aber auch die Eignung von Wikis als Instrument zur (gemeinsamen) strukturierten Darstellung und / oder Sammlung von kursübergreifend relevanten Informationen z.B. als Informationsplattform für einen universitären Fachbereich (Beißwenger; Ilyes, Terkowsky & Kroll; Mittelstädt & Kirchner).

In ihrem Überblick über unterschiedliche universitäre Einsatzszenarien von Wikis konstatiert Bremer, dass gemeinsames Schreiben an einem Text nur in Veranstaltungen vorkomme, in denen dies explizit eingefordert werde (S. 107). Informelles kollaboratives Schreiben finde dagegen "kaum bis gar nicht statt, selbst nicht in den studentisch initiierten Projekten. […] Dies entspricht den […] von Baumgartner (2006) und anderen geäußerten Bedenken, ob in Hochschulen die den sozialen Netzwerken eigenen informellen, selbstbestimmten Beteiligungsstrukturen überhaupt möglich sind" (S. 110). Andere Autoren berichten von "Skrupeln, ob (und wie) man Texte anderer überhaupt überarbeiten dürfe" (Beißwenger, S. 61) oder von Spannungen, die dadurch entstanden, dass Erwartungen an die Kollaboration sich nicht oder nur teilweise erfüllten (Endres, S. 136f.). Um Ursachen solcher Probleme zu identifizieren, nutzt Endres das Schreibprozessmodell von John R. Hayes (1996) als Diagnoseinstrument für die (im Wiki dokumentierten) Prozessabläufe des Schreibens während eines von ihr durchgeführten Seminars. Das Modell Hayes' betrachtet den Prozess des Schreibens sowohl aus der Sicht des Individuums als auch in Bezug auf die "Aufgabenumgebung", d.h. Aspekte wie das soziale Umfeld und die physikalische Umgebung sowie Merkmale des spezifischen Schreibwerkzeugs. Als Ursache von Problemen werden auf diese Weise z.B. die Trennung von Inhalts- und Diskussionsseiten in einem Wiki identifiziert, ebenso wie die Asynchronität der Ideenfindungsphase (S. 141); als Lösung wird z.B. vorgeschlagen, die Arbeit im Wiki mit synchronen Tools zu ergänzen, etwa Adobe Connect oder einem Etherpad. Dieses Ergebnis wird übrigens auch dadurch bestätigt, dass bei mehreren der im Band geschilderten gelungenen Wiki-Projekte die Strukturierung in Präsenzzeiten erfolgte und auch Schreib- und Revisionsarbeiten gemeinsam in Präsenz vorgenommen wurden.

Nicht nur in diesem Fall hätte ein systematischer Vergleich nahe gelegen. Hier haben die Herausgeber eine Chance verpasst – selbst die Zusammenstellung der Beiträge erfolgt alphabetisch nach Autorennamen statt thematisch. Dabei hätte es zahlreiche Ansatzpunkte für vergleichende Auswertungen gegeben: So wurden in verschiedenen Projekten Wikis als Lernmittel und Lerngegenstand eingesetzt (Himpsl-Gutermann & Schnabl; Pelka; Schüler); angeboten hätten sich außerdem Themen wie die motivierende Wirkung der (geplanten) öffentlichen Sichtbarkeit eines Wikis oder die notwendigen Organisationsstrukturen und -prozesse, wenn ein solches System von anderen Personen als den ursprünglichen Entwicklern gepflegt werden soll. Letzteres betrifft u.a. die beiden Beiträge zur Konzeption und Nutzung von Wikis als Plattformen universitärer Fachbereiche: in der Germanistik an der TU Dortmund (Beißwenger) und in der Kulturanthropologie und Europäischen Ethnologie der Goethe-Universität Frankfurt (Ilyes, Terkowsky & Kroll). Beide gingen aus studentischen Projekten hervor, entwickelten aber jeweils unterschiedliche Modelle.

Im Gesamtkontext des Buches fallen die beiden Beiträge über das ZUM-Wiki – das Wiki der Zentrale für Unterrichtsmedien im Internet e.V. (ZUM) (Kirst) – und ein zur "ZUM-Wiki-Family" gehörendes Schulwiki (Schellmann & Eirich) etwas aus dem Rahmen: Zwar wird das System Wiki sehr bewusst eingesetzt, jedoch geht es nicht in erster Linie um die (Erforschung der) Arbeitsprozesse in einem Wiki. Vielmehr wird das Wiki als Instrument betrachtet, das es allen interessierten Lehrerinnen und Lehrern erheblich besser als das zuvor eingesetzte Content Management System ermöglicht, gemeinsam Unterrichtsmaterialien und -vorschläge zu sammeln. Dabei entwickelte sich schnell ein eigenes Profil, etwa durch die Strukturierung nach Unterrichtsfächern oder die Zulassung expliziter Meinungsäußerungen. Für bestimmte Anforderungen wurde das zugrundeliegende System MediaWiki weiterentwickelt, sodass nun z.B. über Extensions (Erweiterungen, d.h. kleine Softwareprogramme) Übungselemente wie Quizzes, Puzzleaufgaben usw. integriert oder GeoGebra-Applets für (interaktive) mathematische Darstellungen, z.B. in den Bereichen Geometrie oder Algebra, genutzt werden können. Solche Entwicklungen orientieren sich an didaktischen Erfordernissen des Unterrichts. Entsprechend werden auch Klassen- oder Schulwikis sehr verschieden eingesetzt: als Informationsplattform oder digitales Arbeitsblatt – oder als "echtes" Wiki, in dem Schülerinnen und Schüler an der Entwicklung von Inhalten mitarbeiten können (Schellmann & Eirich).

Der Band enthält also eine Fülle von sehr unterschiedlichen und durchwegs anregenden Beiträgen. So zeigt er nicht nur die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten von Wikis bei der Begleitung und Erforschung von Schreibprozessen sowie der kollaborativen Textproduktion. Über solche oft eher selbstreferenziellen Nutzungsformen in Lernkontexten hinaus weist er auch darauf hin, dass Wikis mächtige Werkzeuge sind, die sich (auch in Bildungszusammenhängen) auf sehr unterschiedliche Weise einsetzen lassen, z.B. als Informations- und Organisationsplattform. Das Beispiel des ZUM-Wiki zeigt zudem, dass ein besonderes Potenzial für Lehrende darin liegt, Wikis nicht nur "im Unterricht" einzusetzen, sondern zum Austausch untereinander und zur Sammlung von Lernmaterialien bis hin zu Quellcode – auch wenn es nach bisherigen Erfahrungen fraglich ist, ob sich diese unter Lehrerinnen und Lehrern offenbar selbstverständlich praktizierte Kultur des Austauschs auch auf den Bereich der Hochschulen übertragen ließe.

Letzte Änderung: 08.04.2015