In 10 Tagen von der Präsenzhochschule zur Online-Lehre

28.04.2020: Was passiert, wenn eine klassische Präsenzhochschule mitten im Semester innerhalb weniger Tage ihren Betrieb komplett virtualisiert? Die International School of Management (ISM) hat diesen Change-Prozess in 10 Tagen umgesetzt – seit 30. März 2020 finden alle Lehrveranstaltungen für alle Studiengänge komplett online statt. Prof. Dr. Johannes Moskaliuk benennt in seinem Beitrag zentrale Aspekte, die im Change-Prozess beachtet wurden und zieht ein erstes Fazit.

Die International School of Management (ISM) ist eine private Hochschule, die an sieben Standorten in Deutschland über 4000 Studierende in wirtschaftswissenschaftlichen Studiengängen unterrichtet. Mit 100 Professorinnen und Professoren und über 500 externen Dozierenden lebt die ISM ihren Markenkern: Individuelle und persönliche Betreuung, interaktive und kooperative Lehre und Praxisbezug. Doch kann das auch virtuell funktionieren?

Als Mitte März 2020 klar wurde, dass die Einschränkungen des öffentlichen Lebens auch die Durchführung von Präsenzveranstaltungen kurzfristig nicht mehr ermöglichen würden, war schnelles Handeln gefragt. Die Semesterzeiten der ISM sind an die internationalen Partneruniversitäten angelehnt, das Semester hat für einige Studiengänge bereits Anfang März begonnen. Eine längere Verschiebung des Semesterstarts würde Prüfungsphasen, Auslandssemester, geplante Praktika und Abschlüsse gefährden.

Deshalb war eine vollständige Digitalisierung aller Lehrveranstaltungen das Ziel. Nach einer Testphase finden seit 30. März 2020 bis auf weiteres alle Lehrveranstaltungen komplett online statt.

Key Learnings

Dieser Beitrag gibt im Folgenden einen Einblick in Strategie und Didaktik der International School of Management und berichtet fünf Key-Learnings aus dem Projekt „ISM Online“ aus den ersten 3 Wochen der Umstellung.

1. Klare und kurzfristige Grundsatzentscheidung des Präsidiums zum Projekt „ISM Online"

Am Anfang stand die Grundsatzentscheidung des Präsidiums, kurzfristig alle Lehrveranstaltungen digital anzubieten und der Umsetzung hohe Priorität in allen Abteilungen einzuräumen. Das ist Voraussetzung, um mit den verfügbaren Ressourcen schnell und effizient arbeiten zu können.

Es lohnt sich zu prüfen, ob bestehende Prozesse genutzt werden können. Je weniger Veränderungen notwendig sind, desto weniger Aufwand stellt die Kommunikation mit Studierenden und Lehrenden dar. Fehler werden reduziert.

Studentin an der ISM
Vom physischen Veranstaltungsraum ins virtuelle Klassenzimmer (Bild: ISM)

Als Grundsetup haben wir im Projekt „ISM Online" jedem physischen Lehrveranstaltungsraum ein virtuelles Klassenzimmer zugeordnet. Studierende und Lehrende können in gewohnter Weise den Kalender im Intranet nutzen: Statt der Angabe eines physischen Raums ist jetzt ein Link zum virtuellen Klassenzimmer angegeben. Um die Studierenden über die Umstellung zu informieren, genügte eine Rundmail mit einer Bedienungsanleitung für das virtuelle Klassenzimmer und dem Verweis auf den bereits bekannten Kalender.

Naheliegend wäre, die virtuellen Lehrveranstaltungen mit weiteren Tools zu ergänzen oder das genutzte Lernmanagementsystem (das auf Präsenzveranstaltungen und Blended-Learning-Konzepte ausgerichtet ist) zu erweitern. Hier haben wir die Lehrenden ermutigt, die Tools zu nutzen, die sie für passend halten. Das führt zu einer Vielzahl an Lösungen: Eine Dozentin nutzt die Tools von Google, zu denen die Studierenden über ihre Campus-E-Mail-Adresse Zugang haben. Ein Dozent lädt die Studierenden in den MS Teams-Raum seines Unternehmens ein. Andere nutzen Edupad, Pingo, Mentimeter oder OBS-Studio.

Das scheint auf den ersten Blick dem Wunsch zu widersprechen, Studierenden ein einheitliches und übersichtliches Nutzererlebnis zu bieten. Auf den zweiten Blick ermöglicht es aber vielfältige und innovative Settings, die Bedürfnisse einzelner Lehrpersonen berücksichtigen.

2. Realistischer Stufenplan mit permanenter Ressourcenanpassung

Agile Managementprinzipien bauen auf kurze Entwicklungsschleifen, die dazu dienen, schnell Feedback zu erhalten: Funktioniert das Konzept? Welche Fehler gibt es noch? Wie reagieren unsere Kunden? Welche Verbesserungsmöglichkeiten gibt es? Welche zusätzlichen Ressourcen sind notwendig.

Im Projekt „ISM Online“ haben wir deshalb innerhalb von 10 Tagen zunächst die berufsbegleitenden Studiengänge auf Online-Lehre umgestellt, im nächsten Schritt die Zertifikatskurse für internationale Studierende und dann die Bachelor-Studiengänge im Vollzeitbereich. Die Rückmeldung der Studierenden und Dozierenden aus jeder Phase haben wir jeweils berücksichtigt und umgesetzt – und so gemeinsam gelernt.

Damit das funktioniert, sind zwei Aspekte wichtig. Zum einen müssen die Stakeholder identifiziert werden, die aus unterschiedlichen Perspektiven Rückmeldung geben können. Im Projekt „ISM Online“ waren das nicht nur die Studierenden und die Lehrpersonen, sondern auch Mitarbeitende in der Verwaltung, die für die technologische und organisatorische Umsetzung zuständig sind, z.B. in der Studienorganisation.

Zum anderen müssen Entscheider auch für Rückmeldung und Feedback erreichbar sein. Nur dann werden Fehler früh erkannt und können korrigiert werden (z.B. ein virtueller Raum ist wegen einer Fehlkonfiguration erst 20 Minuten nach Start der Vorlesung erreichbar).

3. Krisenstab mit Einbindung aller relevanten Abteilungen von IT bis Prüfungsamt

Im Krisenmodus funktionieren die gewohnten Abstimmungs- und Entscheidungsprozesse nicht zuverlässig. Wenn es darum geht, tagesaktuell Informationen neu zu bewerten, sind Stabsstrukturen, die quer zu den bestehenden Verantwortlichkeiten liegen, das Mittel der Wahl. Drei Aspekte sind wichtig:

  1. Der Stab darf nicht zu groß sein. Sitzen zu viele Menschen mit im Boot, dauern Meetings zu lange, Diskussionen werden zu langatmig. Statt den Stab „aufzublähen“, sollten lieber die Kommunikationswege aus dem Stab in die einzelnen Abteilungen und Teams geklärt werden.
  2. Der Stab braucht Entscheidungsbefugnisse – Personen auf Ebene des Präsidiums müssen vertreten sein. Es muss sichergestellt sein, dass der Stab Entscheidungen treffen kann und nicht nur Entscheidungsvorlagen erarbeitet und Abstimmungsprozesse auf anderer Ebene vorbereitet.
  3. Der Stab muss alle Anspruchsgruppen berücksichtigen. Insbesondere, wenn Personen die Entscheidungen des Stabs operativ umsetzen müssen, nicht im Stab vertreten sind, erschwert das Lösungen, die dann auch tragfähig sind.

Insbesondere wenn Stabsstrukturen bestehende Strukturen und Prozesse „überschreiben“ muss die Aufgabe des Stabs klar umrissen und idealerweise auch mit einer zeitlichen Begrenzung versehen sein. Insbesondere, wenn es darum geht, wieder in den „Regelbetrieb“ zu kommen, sind Stäbe nur eingeschränkt sinnvoll. Deshalb ist die Frage immer: Wann ist der Krisenmodus beendet?

4. Lehrende schulen auf didaktischer und technologischer Ebene

Die Virtualisierung von Lehrveranstaltungen ist keine technologische Herausforderung – sondern eine didaktische, denn eine Präsenzveranstaltung lässt sich nicht eins-zu-eins digitalisieren. Gleichzeitig war in der aktuellen Situation keine Zeit, um die Konzeption grundlegend zu verändern.

Online-Lehre an der ISM
Online-Lehre an der ISM (Bild: ISM)


Statt Zeit in die Konzeption digitaler Selbstlerninhalte oder die Umsetzung von Lernplattformen zu stecken, sind wir deshalb dem Konzept der „Präsenzlehre“ auch digital treu geblieben. Dabei kommt uns zu Gute, dass unsere Präsenzveranstaltungen bereits einen hohen Anteil interaktiver und kooperativer Elemente haben, wie z.B. Aufgaben in Kleingruppen, Fallstudien, eingeladene Gäste aus der Praxis, Moderationsmethoden an Metaplanwand und Flipchart.

Wir haben zunächst kurzfristige Schulungsangebote direkt in Zoom auf den Weg gebracht, um die Lehrpersonen mit den technologischen Möglichkeiten vertraut zu machen. Auf didaktischer Ebene haben wir auf die Frage fokussiert, wie sich bestehende Methoden aus der Präsenzlehre digital abbilden lassen. Zwei Beispiele:

  1. Zoom bietet die Möglichkeit für sogenannte Breakout-Sessions. Hier können sich die Teilnehmenden in kleinen Gruppen in weiteren Räumen treffen. Die Lehrperson kann sich in alle Räume einloggen. Über die Funktion sind Kleingruppenarbeiten auch digital möglich.
  2. Über virtuelle Whiteboards kann man gemeinsam an Dokumenten arbeiten. Dort können z.B. Ideen oder Meinungen zu einem Thema gesammelt oder der aktuelle Wissenstand abgefragt werden. Über zusätzliche Tools kann gemeinsam an einem Text gearbeitet werden, z.B. um offene Fragen zu formulieren oder Lernergebnisse zu dokumentieren.

Schnell wurde klar, welche Mehrwerte digitale Medien haben (z.B. während eines Vortrags Fragen und Rückmeldungen im Chat zu sammeln), aber auch, was sich nicht direkt umsetzen lässt (z.B. eine Gruppe mit 30 Personen im „Blick zu haben“.)

5. Prüfen, ob und zu welchen Kosten Entscheidungen revidierbar sind

Bei strategischen Entscheidungen und Investitionen denken wir in der Regel langfristig. Das gilt in besonderem Maße für öffentliche Einrichtungen wie Hochschulen. Gerade weil oft Gremien entscheiden oder Investitionen langfristige Auswirkungen haben, wollen wir uns sicher sein, alle Chancen und Risiken bedacht zu haben, um Fehlentscheidungen zu vermeiden.

Wenn es um Geschwindigkeit geht, kann ein anderes Leitprinzip hilfreich sein. Es geht um die Frage, ob und zu welchen Kosten eine Entscheidung revidierbar ist. Statt zu überlegen, ob eine Entscheidung langfristig sinnvoll ist, sollte geprüft werden welche Kosten entstehen, wenn eine Fehlentscheidung korrigiert werden muss.

Konkretes Beispiel: Im Projekt „ISM Online“ haben wir uns entschieden, die virtuellen Klassenzimmer auf monatlicher Basis zu buchen, diese zunächst manuell zu verwalten und sie auch nicht in bestehende Prozesse zur Nutzerauthentifizierung einzubinden. Das ist keine besonders elegante Lösung, und sicher auch nicht die günstigste. So halten wir aber die Investitionskosten niedrig – und können nach einem Testlauf entscheiden, ob sich die Technologie bewährt hat oder nicht.

Krisenmodus oder Innovation?

Ein wichtiges Fazit aus dem Projekt: Gute Präsenzlehre ist die beste Voraussetzung für gute digitale Lehre. Oder anders formuliert: Letztlich sind die Fragen digital wie anlog ähnlich: Wie aktiviere ich meine Studierenden? Wie ermögliche ich Kooperation? Wie stelle ich Praxisrelevanz sicher? Wie gehe ich mit heterogenem Vorwissen um? Wie motiviere ich mitzudenken?

Was also passiert, wenn eine klassische Präsenzhochschule mitten im Semester innerhalb weniger Tage ihren Betrieb komplett digitalisiert? Was im Krisenmodus begann, ist mittlerweile schon fast Alltag. Nach einer 14-tägigen Testphase finden alle Lehrveranstaltungen ausschließlich online statt. In knapp 200 Lehrveranstaltungen pro Tag an sieben Standorten unterrichten über 700 Dozierende mehr als 20.000 Lehrveranstaltungseinheiten in der Woche.

Dadurch war es möglich, die Semesterplanung weitgehend aufrechtzuerhalten und die Einschränkungen insbesondere mit Blick auf Prüfungsphasen, Auslandssemester und Praktika zunächst gering zu halten. Weder auf technologischer noch auf didaktischer Ebene ist das innovativ. Was aber aus meiner Sicht einzigartig ist, ist die Dynamik, die sich entfaltet hat. Jetzt sind es nicht mehr besonders motivierte Lehrende, die als „Leuchttürme“ digitale Lehre vorantreiben. Hier macht sich eine ganze Hochschule inkl. der Studierenden auf den Weg, digitale Lehre „einfach mal zu machen“. Die Erfahrungen in der Krise werden die Begeisterung für digitale Lehr/-Lernsetting weiter antreiben, und dazu beitragen, die eigene Lehre weiterzuentwickeln.

Beitragende

Johannes Moskaliuk ist Diplompsychologe sowie ausgebildeter Betriebswirt und arbeitet als Professor für Psychology and Management an der International School of Management. Dort ist er Vizepräsident für Digitale Transformation, verantwortet das #ismfernstudium
und leitet den Stuttgarter Campus der ISM.