Wissenschaft in Bildern

23.03.2016:

Interview mit Michael Hellermann

Seite 1 – „Wissenschaft ist abstrakt, ein Bild oft relativ konkret
Seite 2 – Bildtypen, die sich dem Leistungsvermögen von Sprache nähern
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– „Allgemeinverständlicher Ausdruck verändert das Wissen“
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Seite 3/4: „Allgemeinverständlicher Ausdruck verändert das Wissen“

e-teaching.org: Was müssen Rezipienten und Rezipientinnen im Umgang mit Bildern im Film leisten?

Hellermann: Nicht nur den Film selber, sondern auch das, was jeder Rezipient, jede Rezipientin daraus macht, kann man als (mentales) Konstrukt auffassen. Der Rezipient versteht die Reihe montierter Filmschnipsel in einem übergeordneten Zusammenhang, der die Dekodierung der Teilelemente anleitet. Er ordnet die Filmfragmente demnach automatisch einem übergeordneten Schema zu, das die kognitive Verarbeitung der Inhalte auf einer Vorstufe des bewussten Verstehens organisiert. Im Falle eines Spielfilms handelt es sich hierbei um das Schema der dramaturgischen Narration, bei dem sich Sprache und Bild auf einem einander entsprechenden Abstraktionsniveau bewegen und das auf die formalästhetischen Konditionen des Mediums abgestimmt ist.

e-teaching.org: Wie sieht dieser Rezeptionsprozess bei Wissenschaftsfilmen aus?

Hellermann: Wissenschaftsfilme sprechen zumeist das Schema der Explikation und/oder das der Deskription an – zuweilen aber auch das einer Argumentation und in den Geisteswissenschaften darüber hinaus das einer Interpretation oder einer faktualen Narration. Im Rahmen des Erkennens dieser konventionellen Arrangements oder dieser „medialen Modi“, wie ich es nenne, besteht die Aufgabe des Rezipienten unter anderem darin, Sprache und Bild sinnvoll miteinander in Beziehung zu setzen. Dabei klaffen das Abstraktionsniveau von Sprache und Bild im Wissenschaftsfilm häufig auseinander. Das fotografische Bild zeigt konkrete Objekte der gegenständlichen Welt, während auf der Sprachebene Aussagen mit Anspruch auf Allgemeingültigkeit formuliert werden, also nicht konkrete Erscheinungen, sondern theoretische Objekte oder allgemeine Sachverhalte verhandelt werden.

e-teaching.org: Sollte ein Filmemacher eine solche Kluft zwischen Bild und Text nicht vermeiden?

Hellermann: Nicht unbedingt. Er kann diese Kluft, wie schon angedeutet, eben durch die Verwendung begriffsfähiger Bilder überwinden, die erwähnten Allgemeinbilder der Konzeption und der Relation  – oder aber die Lücke muss vom Rezipienten durch die kognitive Interaktion mit dem medialen Material selber ideell geschlossen werden. Es zeigt sich also, dass der Begriff der Abstraktion sich sowohl auf ein Darstellungsverfahren, als auch auf eine Operation des Denkens bezieht. Der Rezipient sieht sich im Wissenschaftsfilm entsprechend immer aufgefordert, das gemeinte Darstellungsschema und hier das gemeinte Abstraktionsniveau zu erkennen und gegebenenfalls selbst herzustellen, indem er etwa ein Bild als Beispiel oder als Typus versteht und damit die Darstellung eines individuellen Objektes als Element einer Klasse denkt. Ist das Abstraktionsniveau des verwendeten medialen Modus höher als das seiner eingesetzten (visuellen) Elemente, dann fordert die Inszenierung den Rezipienten demnach dazu auf, das konkrete Bild als Exempel eines allgemeinen Falls oder als Repräsentant eines Sachverhaltes zu behandeln und verlangt ihm damit eine geistige Abstraktionsleistung ab. Entspricht das Abstraktionsniveau der Bildebene dem der Sprachebene, so paraphrasiert die Bildebene die Ausführungen der Sprachebene, indem sie Anschauungen von Objektklassen oder Relationen präsentiert. Schließlich ist, wie es der Zeichentrickfilm zeigt, auch die umgekehrte Richtung möglich: Im Unterhaltungs-Trickfilm werden abstrakte Bilder häufig konkret interpretiert, eine schematische Darstellung demnach als individuelle Figur behandelt. In der Summe ergeben sich damit vier mögliche Pole, wie sich das Verhältnis von kognitiver und darstellerischer Abstraktion im Extremfall ausprägen kann.

Abstraktion im Verhältnis von Darstellung und Rezeption (Quelle: Michael Hellermann, 2015) vergrößerte Ansicht

e-teaching.org: Jeder Zuschauer ist anders und bringt eine unterschiedliche Vorbildung mit – was das Thema, aber auch was die Rezeption von Filmen angeht. Gibt es Wissenschaftsfilme, die allen Rezipienten gerecht werden?

Hellermann: Sie sprechen damit eigentlich das Ideal der Allgemeinverständlichkeit an, dessen Verwirklichung insbesondere in der Populärwissenschaft angestrebt wird, dann also, wenn öffentliche Wissenskommunikation unter der Maßgabe betrieben wird, das adressierte Publikum zu maximieren. Hierzu gilt es zweierlei Dinge zu notieren. Erstens: ja, es gibt Kommunikationsstrategien und Darstellungsformen mittels derer sich so etwas wie Allgemeinverständlichkeit herstellen lässt. Zweitens, und hier kommt das Aber: Aber wenn man mit solchen Formen arbeitet, verändert sich zwangsläufig auch der Status des wissenschaftlichen Wissens. Der Wissenschaftsphilosoph Jürgen Mittelstraß formulierte passend dazu einmal etwas überspitzt, durchaus aber nicht ganz falsch: „Wissenschaft verständlich gemacht verliert ihre Wissenschaftlichkeit.“ Da ist insofern etwas dran, als dieses „verständlich machen“ einen Transformationsprozess wissenschaftlicher Sätze impliziert, der den Wahrheitsstatus dieser Aussagen tangiert. Die Herstellung von Allgemeinverständlichkeit ist entsprechend eher mit Wissenstransformation als mit Wissenstransfer gleichzusetzen. Vermittlung, die sich am Ziel der Allgemeinverständlichkeit orientiert, also am Kriterium der Voraussetzungslosigkeit der Kommunikation, liegt entsprechend ein kompletter Umbau der Darstellungsformen zugrunde.

e-teaching.org: Gibt es eine solche Transformation auch bei der Vermittlung von Wissen in der Hochschullehre, z.B. über Videos?

Hellermann: Sicherlich. Beim Übergang vom wissenschaftlichen Diskurs zur wissenschaftlichen Lehre macht es sich dahingehend bemerkbar, dass hier vom Prinzip der Sachverhaltsbehauptung auf das Prinzip der Sachverhaltsdarstellung umgestellt wird, der Modus der Argumentation also durch den Modus der Explikation ersetzt wird. Wie leicht nachvollziehbar sein dürfte, liegt der Grund dieser Umstellung in einer Veränderung des jeweils intendierten Kommunikationsziels: Im wissenschaftlichen Diskurs – dem Begründungszusammenhang wissenschaftlichen Wissens – geht es um die ‚Verifizierung’ von Aussagen mit strittigem Geltungsanspruch, in der wissenschaftlichen Lehre – dem Verwendungszusammenhang wissenschaftlichen Wissens – um die Vermittlung der im Begründungszusammenhang gewonnenen bestätigten Urteile. Diese beiden Kommunikationsziele ziehen aber jeweils unterschiedliche mediale Artikulationsverfahren nach sich. Einmal geht es eben um Argumentation und einmal um Erklärung. Auch die verwendeten untergeordneten Darstellungsformen ändern sich in Abhängigkeit vom aufgerufenen Verfahren. So verfügt jeder Modus über einen Bestand konventionell konsolidierter Formen bzw. ein eigenständiges Repertoire privilegierter Darstellungsformen. Zwar gibt es eine Vielzahl ähnlicher Darstellungsformen in beiden Modi; jedoch verändert sich trotz der gegebenen Wiedererkennbarkeit dieser Formen in unterschiedlichen Gebrauchskontexten mit dem Zweck der Kommunikation eben auch die Funktion der eingesetzten Formen. Allgemeinverständliche Kommunikation unterscheidet sich von diesen wissenschaftlichen Standardmodi der Explikation und der Argumentation noch einmal elementar.

e-teaching.org: Woran erkennt man unwissenschaftliche Verallgemeinerungen in medialen Darstellungen? Haben Sie ein Beispiel parat?

Hellermann: Das sieht man schön z.B. an der Sprechweise von Politikern. Diese reden, wenn Sie sich zu komplexen technischen, wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Zusammenhängen äußern, bevorzugt in Form von Metaphern. Wenn man so möchte, ersetzen sie die wissenschaftliche Darstellungsform des Modells durch die unwissenschaftliche Darstellungsform der Metapher – und stellen damit punktuell vom Darstellungsmodus der Explikation respektive dem der Argumentation auf den Darstellungsmodus der Interpretation um. Diese Transformation sichert zwar allgemeine Anschlussfähigkeit – die Metapher ist eine Zwei-Seiten-Form, die Konkretion und damit Anschaulichkeit und Erfahrungsnähe und Abstraktion in einer Einheit miteinander verbindet – verändert aber den Status des kommunizierten Wissens und seine Wahrheitsfähigkeit. Das so veräußerte Wissen büßt seine Rückübersetzbarkeit in den wissenschaftlichen Diskurs ein – und ist damit für die Verwendung in der wissenschaftlichen Lehre eigentlich ungeeignet. Die WDR-Sendung  „Quarks und Co“ z.B. setzt in einem Beitrag zur „Chemie der Gefühle“ auf metaphorische Darstellung neurologischer Prozesse der Gefühlssteuerung. Durch Verwendung von Metaphern gewinnt die Darstellung an Allgemeinverständlichkeit, verliert aber ihre operative Anschlussfähigkeit an den wissenschaftlichen Diskurs.

e-teaching.org: Muss man „Allgemeinverständlichkeit“, wie sie z.B. in vielen MOOCs verfolgt wird, dann nicht eigentlich als Zielkategorie von Wissenschaft revidieren?

Hellermann: Absolute Allgemeinverständlichkeit ist ein Ziel, das in der wissenschaftlichen Lehre, deren Bemühen es ist, operative Partizipationsfähigkeit am wissenschaftlichen Diskurs und an der wissenschaftlichen Forschung herzustellen, eigentlich nicht erreicht werden kann. Aber auch in den akademischen Lehrmodi, im Modus der Explikation und der Deskription (angesprochen sind hier der Einfachheit halber die Natur- und Sozialwissenschaften; für die Geisteswissenschaften stellt sich die Sachlage noch einmal deutlich anders dar), gibt es natürlich eine Vielzahl von Formen und Strategien, mittels derer sich Zugangsbarrieren abbauen, bzw. sich Sachverhalte besser oder schlechter vermitteln lassen. Die Lehre verfügt gegenüber der öffentlichen Kommunikation wissenschaftlichen Wissens ja gerade über den Vorteil, dass Zusammenhänge hier nicht auf Anhieb verständlich erscheinen müssen, sondern die Vermittlung wissenschaftlicher Inhalte über mehrere Etappen verteilt werden kann, so dass sukzessive die Voraussetzungen geschaffen werden können, die für die Aneignung von Wissen auf höherem Komplexitätsniveau erforderlich werden; zudem ist die Rezeptionssituation in der Lehre dadurch gekennzeichnet, dass sie mit einer vergleichsweise höheren Lernbereitschaft der Rezipienten rechnen darf, als dies unter massenmedialen Konditionen der Fall wäre.

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