Lehr-Lern-Experimentierräume

Didaktische Settings und der Einsatz digitaler Medien können nur dann zu Innovationen führen, wenn Lehrende und Lernende experimentierfreudig sind und neue Nutzungs- und Gestaltungsformen für Lernräume ausprobieren. Lehr-Lern-Experimentierräume sind Räume, die zwar im regulären Lehrbetrieb genutzt werden können, deren Einrichtung und Nutzungsweisen aber ausdrücklich experimentell sind.

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Abb. 1: Lehr-Lern-Experimentierraum an der FH Münster (Fotos: Christian Kohls)

Kontext

Digitalisierung bedeutet Umbruch für die Lehre. Lehrveranstaltungen werden transformiert, teils kommt es sogar zu ganz neuen Formen, die alte Vorgehensweisen ersetzen (disruptive Veränderungen). Dabei gibt es viele Möglichkeiten der Gestaltung von Studium und Lehre mit digitalen Medien – insbesondere für die kontinuierlich neu hinzukommenden Technologien und didaktischen Ideen fehlt es jedoch oftmals an konkreten Erfahrungen mit einer lernförderlichen Nutzung. 

Problem

Neue Ideen für die Gestaltung von Lehr- und Lernszenarien mit digitalen Medien müssen ausprobiert werden können, ohne den regulären Lehr- und Lernbetrieb zu stören.

Rahmenbedingungen

  • Lehre als Design: Die Gestaltung von Lehre ist ein Designprozess, der es erfordert, neue Ideen prototypisch umzusetzen und zu erproben. Erst durch das aktive Ausprobieren neuer Setups lässt sich erkennen, was funktioniert und was verbessert werden muss.
  • Experimentierfreude wecken: Dozierende und Studierende sollen ermutigt und befähigt werden, neue Ideen zu entwickeln, auszuprobieren und daraus zu lernen.
  • Partizipation: Neue Lernräume sollen gemeinsam mit Lernenden entwickelt werden und es sollte einen intensiven Diskurs auf dem Campus geben, wie Lernräume der Zukunft aussehen und ausgestattet sein sollen.
  • Flexible Gestaltung: Für die schnelle Umsetzung neuer Ideen, sollten Räume flexibel gestaltbar sein. Zudem sollten unterschiedliche Möbel, Geräte und Technologien für die Lehre zumindest für den Testbetrieb vorhanden sein.
  • Inspiration: Das Ausprobieren und Entwickeln neuer Raumkonstellationen soll auch andere Dozierende inspirieren, sich über die Gestaltung der eigenen Lehre Gedanken zu machen.
  • Neue Technologien explorieren: Neue Technologien sind häufig nicht explizit für Lehr- und Lernzwecke entwickelt, bieten aber vielfältige Möglichkeiten Lernprozesse zu unterstützen. Um herauszufinden, welche Mehrwerte diese Technologien für Bildungskontexte bieten können, müssen Lehrende die Möglichkeit haben, diese Technologien auszutesten. 
  • Physischen und digitalen Lernraum verknüpfen: Neben dem Experimentieren mit unterschiedlichen Nutzungsformen neuer Technologien ist ein möglichst fließender Übergang zwischen physischem Lernraum und digitaler Lernumgebung bzw. Anwendung erstrebenswert, um den Lernfluss nicht zu unterbrechen und die Handlungsoptionen beider Räume miteinander zu verknüpfen. Da hieraus neue, emergente, bislang oft unbekannte Lehr- und Lernszenarien entstehen können, braucht es physische Räume mit digitaler Ausstattung, in denen experimentell verschiedene Verbindungen physischer und digitaler Lernumgebungen erprobt werden können. Erst durch das Ausprobieren neuer Settings lassen sich die Effekte hybrider Lernszenarien beurteilen.

Lösung

Hochschulen stellen Experimentierräume für neue didaktische Settings bereit, in denen Dozierende und Studierende neue Anordnungen von Möbeln (statt klassischer Sitzreihen, U-Form usw.) und den Einsatz innovativer Technologien erproben können. Ein Experimentierraum ist dabei so ausgelegt, dass allen Beteiligten klar ist, dass die neuen Szenarien in Teilen experimentellen Charakter haben und der Erfolg der Maßnahme noch nicht sicher ist. 

Details

Die Experimentierräume sind vor allem mit flexiblem Mobiliar ausgestattet, damit Dozierende und Studierende ihre eigenen Setups einrichten können. Dieses Setup kann sich für die jeweiligen Lehrveranstaltungen in jeder Einzelveranstaltung ändern oder aber über einen bestimmten Zeitraum gleichbleiben. Wenn das Setup über einen längeren Zeitraum (z.B. mehrere Wochen oder ein Semester) gleichbleiben soll, müssen sich die lehrenden Personen auf ein gemeinsames Setting einigen.

Zudem gibt es in den Räumen Technologien, die noch nicht in Standardlehrräumen verbaut bzw. vorhanden sind und deren Einsatzmöglichkeiten aktiv erprobt werden. Da in den Experimentierräumen insbesondere mit neuen, in Bildungskontexten bislang wenig eingesetzten Technologien, gearbeitet wird sind ggf. regelmäßige Anpassungen des technischen Setups notwendig. Entsprechend sollte kontinuierlich ein technischer Support verfügbar sein, der in Abstimmung mit den bereits vorhandenen IT-Support-Strukturen der Hochschule auch Sonderwünsche zeitnah realisieren kann.

Stolpersteine

  • Durch das ständige Umgestalten der Räume können sich Dozierende nicht darauf verlassen, dass der Raum beim nächsten Mal wie gewohnt aussieht. Es muss entsprechend vor jeder Veranstaltung zusätzliche Zeit für die Vorbereitung des Raums eingeplant werden. Teils wird deshalb festgelegt, dass am Ende einer Veranstaltung alles wieder in eine Ausgangsposition zurückgeräumt wird. Dies hat jedoch den Nachteil, dass dann zur individuellen Aufbau- auch noch die Abbauzeit hinzukommt. Zudem können sich andere nicht von den Setups vorheriger Nutzung inspirieren lassen. Es kann jedoch sinnvoll sein, dass ein Raum über einen längeren Zeitraum eine verlässliche Konfiguration aufweist. Hier muss es eine Regelung geben, wann und wie oft der Raum verändert werden darf.
  • Die Einschätzung, ob ein neu entwickeltes Lehr-Lernszenario lernförderlich und entsprechend sinnvoll ist, kann nicht durch einzelne Dozierende getroffen werden – insbesondere, wenn auf Basis dieser Einschätzung Räume auf dem Campus dauerhaft neu gestaltet werden sollen. Deshalb sollten gemeinsam mit allen Beteiligten (d.h. mit Dozierenden, Fachbereichsverantwortlichen, Studierenden, Supportmitarbeitenden aus den Bereichen Technik und Didaktik sowie ggf. Raum- und Stundenplanern, Gebäudemanagement, Hochschulleitung und weiteren) verlässliche Bewertungskriterien erarbeitet werden.
  • Eine wissenschaftliche Begleitforschung sowie die Dokumentation der erprobten Lehr-Lernszenarien können wichtige Werkzeuge für eine objektive Bewertung neuer Lehr- und Lernformate darstellen. Jedoch sollte die Experimentierfreude in der Lehre nicht durch einen zu hohen Begleitaufwand gehemmt werden.
  • Auf Seiten der Studierenden können Bedenken bestehen, wenn eine reguläre Lehrveranstaltung in einem experimentellen Format durchgeführt werden soll. Ein transparentes Vorgehen in Bezug auf die Ziele der Lehrveranstaltung sowie faire Bedingungen hinsichtlich formaler Kriterien, bspw. in Bezug auf zu erbringende Prüfungsleistungen im Rahmen der Veranstaltung, sind deshalb wichtig. Auch Bedenken bei der Nutzung neuer digitaler Technologien, etwa hinsichtlich des Datenschutzes, sollten ernst genommen werden. Nur wenn sich auch die Studierenden auf neue Formate einlassen, können diese sinnvoll umgesetzt und erprobt werden.

Vorteile

  • Neue didaktische Szenarien können entdeckt und erprobt werden. Durch das flexible Umgestalten kann es auch zu Zufallsentdeckungen kommen.
  • Die Partizipation der Lernenden kann durch Experimentierräume erhöht werden, da Vorschläge von Studierenden aufgegriffen und ausprobiert werden können.
  • Die Experimentierräume geben mehr Freiheiten und fördern ein kreatives Mindset, sie geben das Signal „hier darf man Dinge verändern“. Eine spielerische Herangehensweise wird gefördert.
  • Empirische Erkenntnisse können für die Gestaltung von Lernräumen gesammelt und Lehrende – bspw. im Rahmen des Scholarship of Teaching and Learning (SOTL) – zur Auseinandersetzung mit und Weiterentwicklung der eigenen Lehre angeregt werden. Die Gestaltung kann entsprechend auch als Lehrforschungsprojekt durchgeführt werden.
  • Innovative Lehrideen können ausgestaltet und iterativ verbessert werden. 

Nachteile

  • Dozierende benötigen etwas Mut, denn ein neues Setup kann natürlich schiefgehen. Es findet ein Experimentieren am „lebenden Patienten“ (also hier den Studierenden) statt, ohne dass die Wirksamkeit einer Maßnahme bekannt ist. Daher ist Transparenz über Ziele und den experimentellen Charakter sehr wichtig.
  • Das Vorbereiten, Nachbereiten und Auswerten der erprobten Lösungen und Formate kostet zusätzliche Zeit, die Dozierende in ihrem Lehralltag aufbringen müssen.
  • Bei erfolgreichen Setups werden zudem eventuell Begehrlichkeiten geweckt, die mit den finanziellen und räumlichen Ressourcen der Hochschule nicht erfüllt werden können. 

Beispiele

Mit dem Open Teaching Lab (OTL) verfügt die Hochschule Konstanz (HTWG) über ein offenes Lehr- und Lernlabor, das sich aus unterschiedlichen physischen und virtuellen Experimentier- und Angebotsbereichen zusammensetzt. Es umfasst einen Experimentierraum mit multifunktionalem und flexibel einsetzbarem technischen Equipment zur Entwicklung und Gestaltung digitaler Lehre sowie eine Open Lounge, die insbesondere den fakultätsübergreifenden, informellen Austausch Lehrender unterstützen soll. Eingebettet ist das OTL in das Open Learning Center der HTWG, welches mehrere speziell auf digital unterstützte Lehre ausgerichtete Räume bereitstellt.

Die Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) bietet ihren Lehrenden und Studierenden flexible Lernräume an, die mit beweglichem Mobiliar ausgestattet sind. Mit den Lern- und Lehrräumen sollen neue Technologien und Formen der Zusammenarbeit erprobt und insbesondere agile und projektorientierte Formen der Lehre sowie weitere Formen des kollaborativen und interaktiven Lernens und Lehrens räumlich noch gezielter unterstützt werden.

Mit dem Digital Lab stellt die Universität Potsdam ihren Lehrenden und Dozierenden einen Experimentierraum zur Verfügung, in dem sie eigene Vorhaben im Kontext digitaler Bildung entwickeln und erproben können. Der Experimentierraum ist insbesondere für die Lehrkräftebildung an der Universität vorgesehen und richtet sich neben den Hochschulmitarbeitenden an Lehramtsstudierende sowie Lehrkräfte im Land Brandenburg. Neben flexiblem Mobiliar, Beamer und Soundsystem sowie einer Grundausstattung an Moderationsmaterialien bietet der Raum auch eine „Schatzkiste“ voll Technik zum Ausprobieren.

Ebenfalls im Kontext der Aus- und Weiterbildung von Lehrerinnen und Lehrern stellt die Heidelberg School of Education mit dem HSE Digital Teaching and Learning Lab gleich einen ganzen Verbund moderner Räumlichkeiten mit aktuellster medientechnischer Ausstattung für experimentelle Lehr- und Lernformate zur Verfügung. Dozierende lehrer:innenbildender Fächer sollen mit dem Lab innovative didaktische Methoden und Technologien kennenlernen. Zudem sollen Impulse für den Austausch in Forschung, Lehre, Innovation und Transfer gegeben werden.

Die Bildungswerkstatt der Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften der TH Köln besteht aus mehreren leeren Räumen, die durch flexible und modulare Möbel schnell für verschiedene Settings hergerichtet werden können. Nach jeder Nutzung eines Raums wird dieser wieder in seinen ursprünglichen, leeren Zustand zurückgesetzt. Lehrende und Lernende können vielfältige Szenarien in diesen Räumen erproben. Die Räume sind explizit für die Entwicklung didaktischer Bildungskonzepte ausgelegt, wobei Heterogenität, projektorientiertes und eigenverantwortliches Arbeiten der Studierenden im Fokus stehen. 

Das Teaching & Learning Lab (TLL) der Utrecht University erlaubt es Lehrenden, sich Lehrräume nach ihren eigenen Vorstellungen zu gestalten. Gemeinsam mit didaktischen Beratern werden Lehr- und Lernszenarien entwickelt. Lehrende können dabei neue Möglichkeiten in einer realen Experimentierumgebung ausprobieren. Digitale Medien, z.B. interaktive Whiteboards, sind in die Experimentierräume eingebunden. 

Am Institut für Berufliche Lehrerbildung der FH Münster können Studierende im Rahmen von Design-Thinking-Kursen neue Lernumgebungen für ihren Unterricht gestalten und die didaktischen Setups selbst erleben (s. Abb. 1). Die Erfahrungen mit diesen Kursen haben Prof. Dr. Thilo Harth und Dr. Stefanie Panke in einer gemeinsamen Publikation dargestellt.

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