Physische Artefakte in Videokonferenzen

Anhand von handschriftlichen Skizzen, selbstgebauten Modellen oder anderen physischen Artefakten können Ideen veranschaulicht und gemeinsam diskutiert und weiterentwickelt werden. Diese Anreicherung und Erweiterung der Kommunikation lässt sich auch in Videokonferenzen nutzen, um Studierenden vielfältige Ausdrucksmöglichkeiten und Kollaborationsformen anzubieten und die Zusammenarbeit in Studium und Lehre möglichst optimal zu unterstützen.

Kontext

Videokonferenzen gehören inzwischen zum Hochschullalltag. Ob in Einzelgesprächen, Online-Veranstaltungen oder hybriden Settings: die Übertragung von Audio, Video und dem eigenen Bildschirm geschieht in der Regel ohne große Schwierigkeiten. Dabei wird jedoch oft übersehen, dass bei Veranstaltungen in der realen, physischen Welt viele weitere Objekte mit in die Kommunikation einbezogen werden. Dies können spontane Zeichnungen auf einem Blatt Papier sein, das Präsentieren von Produkten und Prototypen oder das Erklären dynamischer Zusammenhänge mithilfe von Modellen oder Legosteinen. Die Einbindung der vielfältigen haptischen Kommunikationswerkzeuge, die uns im Alltag zur Verfügung stehen, ist in einer Videokonferenz in der Regel nicht vorgesehen.

Problem

Viele Ausdrucksformen, veranschaulichende Beispiele und Objekte der Lern- und Arbeitsumgebung kommen in einer Videokonferenz nicht vor. Die Verdichtung auf Audio und Videobilder der teilnehmenden Personen führt oftmals zu einer Verarmung der Kommunikationskanäle. 

Rahmenbedingungen

  • Ausdrucksstärke: In Besprechungen und Workshops vor Ort stehen den Teilnehmenden vielfältige Ausdrucksmöglichkeiten zur Verfügung. Dazu gehören z.B. das Skizzieren auf einem Zettel oder Whiteboard, das Erklären mit Legosteinen, das Präsentieren von selbst gebauten Modellen oder Produkten. Diese Präsentationen können in eine Veranstaltung mitgebracht werden oder während der Durchführung ad hoc entstehen. Diese Form multimodaler Expressivität findet jedoch in Videokonferenzen meist keinen Einzug, da sich die verfügbaren Werkzeuge auf Chat, Abstimmungen, Bildschirmübertragungen, ggf. digitale Skizzen, Audio- und Videoübertragung beschränken.
  • Anstupsen: Auch in vor-Ort-Besprechungen und -Workshops fehlt oft der spontane Impuls, die eigenen Gedanken zu visualisieren oder durch greifbare Objekte (Legosteine, Karten) zu veranschaulichen. Meist benötigt es die Aufforderung durch eine Moderatorin oder einen Moderator, damit Teilnehmende tatsächlich zu Stift und Papier greifen, um die kommunikativen Vorteile von einfachen Skizzen zu nutzen. Kreativräume und Design Studios zielen darauf ab, die Hürde zur Nutzung solcher Ausdrucksmöglichkeiten zu verringern, z.B. in dem Notizzettel oder Arbeitsvorlagen direkt auf dem Tisch liegen oder die Möbelanordnung zur Nutzung von Whiteboards einlädt.
  • Umgebung einbinden: Die teilnehmenden Personen einer Videokonferenz befinden sich in der Regel an einem Arbeitsplatz, der vielfältige Materialien und Werkzeuge bereitstellt: Notizzettel, Unterlagen, Ausdrucke, Gegenstände auf dem Schreibtisch. Zum Zeigen der eigenen Arbeitsumgebung ist es erforderlich, die Kameraposition zu verändern. Bei Webcams geht dies einfach, bei integrierten Kameras muss der gesamte Laptop gedreht werden. Der Kameraschwenk vom Profilbild der teilnehmenden Person zu eigenen Notizen oder Skizzen wirkt dabei irritierend. Zudem ist die Person dann auch nicht mehr sichtbar.
  • Zusätzliche Kamera: Für die einzelnen Teilnehmerinnen und Teilnehmer ist in der Regel nur die Teilnahme mit einer einzigen Kamera vorgesehen, um das Profil der teilnehmenden Person live aufzunehmen. Das Hinzuschalten einer weiteren Kamera ist möglich, indem z.B. mit einem Smartphone zusätzlich an einer Konferenzsession teilgenommen wird.
  • Fehlendes Angebot zur Einbindung weiterer Videokanäle: Die für Video und Audio optimierten Konferenzsysteme bieten in der Regel keine Funktionen an, die das Hinzuschalten weiterer Kameras unterstützen oder nahelegen. Teilnehmende kommen also in der Regel nicht von selbst auf die Idee, mehr als einen Videostream von sich und der eigenen Umgebung zu teilen. 

Lösung

Physische Artefakte aus der jeweiligen Arbeitsumgebung werden aktiv in eine Videokonferenz eingebunden, um den teilnehmenden Personen vielfältige Arbeitsweisen und Ausdrucksformen zu ermöglichen. Es werden gezielt Arbeitsaufträge vorbereitet, bei denen Lernende während der Videokonferenz mit Materialien, die üblicherweise an ihrem Arbeitsplatz vorhanden sind, Ideen oder Ergebnisse erzeugen. Die teilnehmenden Personen können z.B. Skizzen auf Papier erstellen oder mit Objekten aus ihrem Umfeld Szenarien und Modelle darstellen. 

Details

Die Einbindung der Arbeitsumgebung kann niedrigschwellig erfolgen, z.B. indem Objekte in die Kamera gehalten werden oder dauerhaft eine zusätzliche Webcam oder die Smartphone-Kamera (als weiterer Teilnehmer) in die Videokonferenz eingebunden wird. Mit der zusätzlichen Kamera können Gegenstände und Dokumente im Raum aufgezeichnet, präsentiert und diskutiert werden.

Einbinden von Artefakten per Smartphone
Einbinden von Objekten per Smartphone: als Foto oder als zusätzlicher Teilnehmer im Live-Stream mit der Smartphone-Kamera (Fotos: Christian Hahn (links) und Christian Kohls / TH Köln)

Für Lehrveranstaltungen, in denen häufig Gegenstände und Ergebnisse aus der physischen Welt präsentiert werden, bietet es sich an, ein festinstalliertes Setup zu wählen (z.B. ein Kamerastativ oder eine Dokumentenkamera), mit dem Objekte vom Schreibtisch der lehrenden Person oder der Lernenden aufgenommen werden können.

Insbesondere in Videokonferenzräumen sollte neben der Aufzeichnung der teilnehmenden Personen auch ein Arbeitsbereich vorgesehen werden, der schnell mit einer weiteren Kamera in die Besprechung eingebunden werden kann. So können vernetzte Standorte, z.B. Fakultäten an verschiedenen Standorten, reichhaltigere Kommunikationskanäle nutzen: Studierende an einem Ort können ihre erarbeiteten Ergebnisse und Artefakte in den aufgenommenen Arbeitsbereich legen und diese so ihren Kommilitonen an einem anderen Ort zeigen. Durch die fest ausgewiesene Aufnahmefläche entsteht eine Einladung (und damit auch ein positiver Anstoß), beliebige Materialien und Artefakte mit in eine Besprechung zu integrieren.

Die meisten Softwarewerkzeuge für Videokonferenzen erlauben die Teilnahme mit einem Smartphone. Durch Smartphones ist meist schon mindestens eine weitere Kamera im Raum vorhanden. Dies lässt sich nutzen, wenn man sich als teilnehmende Person zusätzlich mit dem Smartphone zur einer Konferenzsitzung dazuschaltet. Das Hinzuschalten kann auch temporär für die Dauer der Präsentation eigener Ergebnisse geschehen. Besonders vorteilhaft beim Smartphone ist die Aufnahme des eigenen Arbeitsbereiches aus unterschiedlichen Perspektiven.

Für das handschriftliche Anfertigen von Skizzen und erklärenden Zeichnungen können auch Tablets in ein Meeting eingebunden werden – dann liegen die Skizzen direkt digital vor. Viele Konferenzsysteme bieten einfache Whiteboard-Funktionalitäten, wodurch die Einbindung besonders gut funktioniert. In diesem Setup wird das Tablet als ein weiterer Konferenzteilnehmer hinzugeschaltet. Dieser überträgt jedoch nicht sein Videobild, sondern das Tablet fungiert als Eingabegerät zum Zeichnen. Das Zeichnen erfolgt entweder direkt auf dem kollaborativen Whiteboard der Konferenzsoftware oder es wird der Bildschirm des Tablets übertragen.

Stolpersteine

  • Die technischen Möglichkeiten für das Einbinden physischer Artefakte sind in Videokonferenzen bereits gegeben, da die meisten Systeme es erlauben, dass eine teilnehmende Person sich mehrfach hinzuschaltet. Allerdings sind für die Umsetzung mehrere Schritte notwendig (z.B. für das Einbinden zusätzlicher Geräte). Daher lohnt es sich, einmalig zu Beginn einer Lehrveranstaltung ein gutes Setup einzurichten.
  • Kern dieser Lösung ist nicht allein die Optimierung des technischen Setups, sondern vielmehr sich die Möglichkeit zu vergegenwärtigen, weitere Videokanäle für die Einbindung der physischen Umgebung zu nutzen. Dies kann zum einen durch vorbereitete Arbeitsaufträge geschehen. Zudem lässt sich am Arbeitsplatz der Aufforderungscharakter zur Einbindung physischer Artefakte erhöhen, wenn hierfür bestimmte Flächen ausgewiesen sind. Auch ein einfaches Erinnerungsschild („Zeig deine Umgebung“) erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die vielfältigen Kommunikationswerkzeuge der Arbeitsumgebung genutzt werden.
  • Beim Hinzuschalten weiterer Geräte ist darauf zu achten, dass nur ein einziges Gerät Audio aufnimmt und ausgibt, sonst kommt es zu sehr unangenehmen Echoeffekten. Beim hinzugeschalteten Gerät müssen also unbedingt schon beim Beitritt in die Sitzung das Mikrofon und die Lautsprecher auf stumm geschaltet werden.
  • Bei der Aufnahme der eigenen Arbeitsumgebung und auch beim Ermutigen der Lernenden, ihre Umgebung mit anderen zu teilen, ist die Privatsphäre besonders zu respektieren. Es muss darauf geachtet werden, dass keine persönlichen Gegenstände oder zu schützenden Dokumente zufällig aufgenommen werden (z.B. noch herumliegende Notenlisten oder korrigierte Hausarbeiten auf dem Schreibtisch). 
  • Während die einzelnen Teilnehmenden in ihrer individuellen Arbeitsumgebung mehr Möglichkeiten zum Erarbeiten von Ergebnissen haben, fehlt das gemeinsame Arbeiten an einem Dokument – hierfür muss widerum auf online geteilte Dokumente oder ein geteiltes Whiteboard zurückgegriffen werden. Wenn hingegen Lerngruppen standortübergreifend vernetzt werden, kann jeweils ein Team an einem Ort mit allen Gegenständen, Materialien und Dokumenten haptisch arbeiten und das Ergebnis an andere Teilnehmende oder Lerngruppen per Videokonferenz übertragen.

Vorteile

  • Die Einbindung der physischen Arbeitsumgebung in eine Online-Konferenz erweitert die Ausdrucksmöglichkeiten, Kollaborationsformen und Lernmomente während einer Sitzung. Laut Medienreichhaltigkeitstheorie (Daft & Lengel, 1983, 1986; Kimmerle, 2016) können durch vielfältigere Kommunikationskanäle auch komplexere Informationen und Zusammenhänge besser mediiert werden.
  • Die Möglichkeiten der Zusammenarbeit werden erweitert. Wenn Arbeitsaufträge während einer Online-Sitzung verteilt werden, können die Lernenden selbst wählen, mit welchen Medien und Materialien sie arbeiten möchten. Durch die Aufnahme physisch entstandener Ergebnisse (Modelle, Papierskizzen) lässt sich auch in Online-Sitzungen haptisch und auf natürliche Weise arbeiten, da man sich nicht auf die digitalen Kanäle und Werkzeuge des Konferenzsystems beschränkt. Die Motivation und auch der Spaßfaktor beim Lernen können dadurch erhöht werden.
  • Das Einbinden von realen Objekten eignet sich auch sehr gut für Warm-ups. Z.B. können teilnehmende Personen gebeten werden, ihr aktuell gelesenes Buch in die Kamera zu halten oder gezielt einen Gegenstand bei sich zu Hause zu suchen und zu präsentieren.
  • Aufgrund der Möglichkeit, Gegenstände und Zettel in die Kamera zu halten oder für umfassendere Aufnahmen das eigene Smartphone einzubinden, lässt sich diese Lösung sofort in den meisten Videokonferenzen einsetzen.

Nachteile

  • Das zusätzliche Einbinden weiterer Geräte kostet Zeit, so dass nicht alle Arbeitsaufträge ad hoc funktionieren. Insbesondere die Aufnahme der Umgebung mit einem weiteren Gerät und die Teilnahme einer einzelnen Person über zwei Zugänge machen das Setup kompliziert, auch wenn es technisch möglich ist. Zudem müssen Zugangscodes mehrfach eingegeben werden und ggf. Links oder Codes per Hand von einem Gerät auf ein anderes Gerät übertragen werden. 
  • Es kann leicht passieren, dass private Dokumente einsehbar sind oder ungewollte Aufnahmen der persönlichen Umgebung entstehen.
  • Das Hinzuschalten weiterer Geräte erhöht den Energieverbrauch stark, so dass diese Lösung nicht klimafreundlich ist. Wenn mehrere Kameras über ein Gerät eingebunden werden können, ist dies meist energiesparender.

Werkzeuge

  • Portable Dokumentenkameras lassen sich gut transportieren und einfach an ein Laptop anschließen. Verfügen sie über einen Gelenkarm, können sie flexibel auf unterschiedliche Artefakte im physischen Raum ausgerichtet werden.
  • Mit Applikationen, wie beispielsweise der kostenlosen App Strange Garden, können kollaborativ digitale Collagen aus Webcam-Fotos, Smartphone-Bildern oder Textelementen erstellt werden.

Beispiele

An der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe sind einige Hörsäle sowie Seminarräume mit Dokumentenkameras ausgestattet. Die Kameras sind fest in das Dozierendenpult eingebaut und erlauben die schnelle und unkomplizierte Darstellung von Schriftdokumenten oder kleineren Objekten. Die Aufnahme der Dokumentenkamera kann im Raum auf einem Bildschirm am Pult und über den Beamer auf einer Projektionsfläche mit anwesenden Personen geteilt werden sowie in eine Videokonferenz eingebunden und online geteilt werden.

Bilder eines Pults mit Dokumentenkamera an der PH Karlsruhe
Pult mit Dokumentenkamera an der PH Karlsruhe (Fotos: Dennis Dubbert)

Anstatt fest verbauter Kameras können auch mobile Dokumentenkameras eingesetzt werden. Diese lassen sich schnell auf einem Schreibtisch oder bspw. in einem Seminarraum installieren und erlauben eine detaillierte Darstellung kleinerer Artefakte.

Mobile Dokumentenkamera im Einsatz
Mobile Dokumentenkamera im Einsatz an der TH Köln (Fotos: Christian Kohls)

Im berufsbegleitenden Weiterbildungsstudiengang Web Science an der Technischen Hochschule Köln wurde die Einbindung physischer Artefakte in Videokonferenzen u.a. bereits im Rahmen einer Vorlesung zu Design Thinking erprobt. Studierende sollten ihre Skizzen und Ideen zu Papier bringen und diese am Ende der Videokonferenzsession präsentieren. Das Arbeiten mit haptischen Materialien im Rahmen von Videokonferenzen ist gerade im Designumfeld sehr beliebt, so gibt es bspw. für die Serious-Play-Methode spezielle Anleitungen, wie die entstehenden Artefakte eingebunden werden können.